Skip to main content

Anmerkungen

Zur Verleihung des Schweizer Jugendbuchpreises Ansprache der Autorin, die sich hundert Jahre weit in die Zukunft versetzt:

Verehrte Anwesende, wobei man von »Anwesenheit« ja nicht eigentlich reden kann,
es ist eine der vielen Ausdrucksweisen, die heute nur noch selten passen. Dass Sie sich in Accidental Flashback eingeloggt haben, freut mich aber dermaßen, dass ich das Gefühl habe, ich sehe Sie vor mir, also darum: verehrte Anwesende. Ich begrüße Sie herzlich im Nostalgie-Netz.

Unser heutiger Accidental Flashback bringt uns in einen Raum, in dem sich am 13. September vor hundert Jahren einige Leute zu einer Buchpreis-Verleihung getroffen haben. Sie wissen alle noch, was Bücher waren: diese mit Gedanken oder Gefühlsergüssen bedruckten Papierbündel, die man weltweit zu Millionen in sogenannten Bibliotheken oder Buch-Handlungen lagerte, und von denen es in jedem Haushalt so viele gab, wie der Haushaltvorstand zu seinem Ansehen brauchte.

Das war, als man die menschliche Anlage noch in keiner Hinsicht planen konnte, das Genom wurde eben erst entschlüsselt. Durch diese Makelhaftigkeit der Menschen einerseits und durch die noch durch keine Neuroimplantate geminderten Ängste ergaben sich unzählige Geschichten, die dann eben in Büchern erzählt wurden. Ein immerwiederkehrendes Thema war auch der VNQ, der Variable Neigungsquotient, damals Liebe genannt.

Nun, von diesen Büchern, die das Gewicht der Welt um so unendlich Vieles vergrößerten, sind wir inzwischen ja befreit. Schon längst wird in Bewusstseinsdateien gespeichert, was wir empfinden, schon längst kommunizieren wir papierlos, und die Bücher, die im Jahr 2019 verschont geblieben sind, sind bunkerfest verwahrt. Vielleicht ist unter Ihnen noch jemand da, der 2019 den Global Paperdeath miterlebt hat, als die sogenannte Zündflut sozusagen sämtliche Papierprodukte versengte und auflöste.

Zurück zu diesem Raum, zu diesen Leuten, die vor hundert Jahren hierhergekommen sind, und zwar nicht virtuell wie wir, sondern ganz real und tatsächlich, mit Fahrzeugen von außerhalb, vielleicht regenfeucht, vielleicht erhitzt, vielleicht hungrig, vielleicht mit Hundekot an den Schuhen:

Der Raum befindet sich im Haus Sonnenhof in Zürich – heute Botschaftssitz der Vereinigten Reststaaten – und zwar im Untergeschoss; in den oberen Stockwerken war damals eben eine der erwähnten Bibliotheken untergebracht, das sogenannte Schweizerische Sozialarchiv. Hier befassten sich die Studierende im Licht von Leselampen mit den papierenen Dokumenten zur Geschichte der Arbeiterschaft ... Man vergisst heute oft, dass damals auch noch in Europa Arbeiter und Arbeiterinnen manuell und maschinell Güter produzierten – wie heute ausschließlich außerhalb des Börsenbelts ... Aber ich schweife ich ab.

Der Buchpreis. zu deren Verleihung die Leute sich getroffen hatten, ging an eine Autorin namens Angelika Waldis. Ihr Buch soll, so weit sich in Erfahrung bringen ließ, von einer Freundschaft zwischen zwei Kindern gehandelt haben, wobei das Mädchen 1999 lebte und der Junge 1899. Der Junge lebte also zu einer Zeit, als unser virtueller Treffpunkt, der Sonnenhof, die Residenz der Seidenherren Sieber war, die Rohseide aus China und Japan importierten und eigene Lagerhäuser in Schanghai besaßen. Es scheint uns heute unvorstellbar, dass man einen Kleiderstoff auf so unappetitliche Weise herstellen konnte. Für eine Bluse etwa brauchte es 800 Raupen – stellen Sie sich weiße, neun Zentimeter lange Dinger vor, mit einer Spinnwarze am Kopf – die spannen den nötigen Seidenfaden ... schon wieder schweife ich ab.

Dieses Buch dieser Angelika Waldis richtete sich übrigens an Kinder, so nannte man die Jungklonen, bis sie etwa 13, 14 waren. Und den Preis stiftete der Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer, wobei ich hier, um Abschweifungen vorzubeugen, nicht weiter darauf eingehe, was die Schweiz war und was ein Lehrer tat.

Angelika Waldis soll sich außerordentlich gefreut und sehr herzlich bedankt haben. Mag sein, dass ihr die Ehrung des bescheidenen Buchs ein bisschen peinlich war. Ich nehme an, sie dankte den freundlichen Preisstiftern und allen, die an der Feier für sie freundliche Worte gefunden hatten. Und sie dankte dem Publikum, das sich tatsächlich zu diesem Anlass aufgemacht hatte, beschuht und mit tickenden Uhren zum Umschnallen, weil sie die Zeit noch nicht implantiert hatten. Und falls jemand musiziert hat, richtig live, wird sie sich auch bei den Musikern herzlich bedankt haben.
Dank hat sich in hundert Jahren nicht verändert.

So weit unser Accidental Flashback. Sie finden nachfolgend die besten Links zu: Schweiz, Kind, Sozialreform, Global Paperdeath, Seidenraupe, Liebe.