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Rezensionen

Beatrice Eichmann-Leutenegger, Neue Zürcher Zeitung, September 2013

Warum ist sie nicht längst gegangen, warum hat sie so lange diesen schmarotzenden Ehemann geduldet? Man könnte diese nunmehr siebzigjährige Luisa Gallmann schütteln, die vierzig Jahre in der Ehewüste ausgeharrt hat. Problemlos hätte sie, die Dozentin an der Pflegefachschule, ihren Lebensunterhalt allein bestreiten können. Doch nun will sie endlich aufräumen und den Ballast aus ihrem Leben wegschaffen.

 »Todesmüdigkeit« 

Es geht nicht um alte Kleider oder verschlissene Möbelstücke, sondern um drei Männer: den Gatten Alfred, den Schwiegersohn Roman und den Arzt Dr. Hausammann. Alle drei haben Luisas Daseinsfreude und jene ihrer beiden Töchter schwer beschädigt. Der Ehemann schmückte sich mit dem Etikett »Künstler« und warf ihr Spießigkeit vor, trieb sich aber vor allem als Schürzenjäger herum; Roman, der Polizist und ewige Nörgler, verwandelte die aufgeweckte Mirjam in ein Duckmäuschen. Dr. Hausammann aber vernichtete mit einem »Kunstfehler« Mayas Gesundheit, und Luisa führte über Jahre hinweg erfolglos einen Prozess gegen ihn. Blickt sie zurück, so sieht sie sich als eine von Sorgen geprügelte Frau, die sich täglich aus der »Todesmüdigkeit« herausstrampeln musste. Mit schiefen Sätzen, die sie in Zeitungen entdeckte und sammelte, versuchte sie sich abzulenken: Es waren Sätze so schief wie ihr Leben. Furchtbar, diese Häufung von Katastrophen, möchte man denken, aber gleich der erste Absatz in Angelika Waldis' neuem Roman lenkt uns auf einen Weg, der denkbar weit von jeder Larmoyanz wegführt. Diese Autorin bringt, was sie erzählen will, ohne Umschweife auf den Punkt. Ihre Mixtur von Akkuratesse und Ironie verwehrt indessen keinesfalls Wehmut oder Schmerz, aber quälende Empfindungen wie auch überwältigende Emotionen siedeln sich mit Vorliebe an der Schwelle zur Sprachlosigkeit an. Die geglückte Balance der unterschiedlichen Regungen sorgt für eine wunderbar leichte Lektüre und den ganz eigenen Ton des Textes. Am Schluss lässt sie uns mit einem Satz zurück, der wundersames Staunen weckt. Flack nämlich – von ihm wird noch die Rede sein – besucht erstmals zusammen mit Luisa deren schwerbehinderte Tochter Maya und meint schließlich: «Was sie nicht sagt, ist sehr schön.»

Diese präzise und knappe Erzählkunst gibt auch den Figuren ein unverwechselbares Profil. Eines aber bleibt ihnen gemeinsam: der Wille zum Ausbruch. Alfred gelingt er unschwer, da er nach »Inspiration« lechzt und dafür exotisches Terrain benötigt. Mirjam rettet sich in ein unerklärliches Lachen, um den Schmerz zu bannen. Luisa aber dämmert Jahrzehnte dahin. Zwar entführt sie die kurze, unerfüllte Liebe zu Silvan ins Flucht- und Traumland anderer Daseinsmöglichkeiten, doch der geliebte Mann stirbt. Es dauert lange, bis sie sich in den Zug setzen wird, um angeblich nach Wien zu fahren. In Wirklichkeit aber ist Genua ihr Ziel, der Ort der Abrechnung mit Alfred.

»Büßer sind Genießer«

Eine wahrhaft interessante Gestalt, die bis zum Schluss voller Rätsel bleibt, gelingt der Autorin indessen mit dem bereits erwähnten Flack, der ebenfalls ausgebrochen ist. Der Mann, leicht über vierzig, heißt in Wirklichkeit Hans Haller und begegnet Luisa Gallmann im Zug Richtung Mailand. Er reist ohne Gepäck, nur mit einem Plasticsack, und er verblüfft sie mit Sätzen wie »Büßer sind Genießer« oder mit dem wieselflinken Diebstahl einer Aktentasche. Eigentlich will Luisa ihn loswerden, da sie ja nach Genua unterwegs ist, um ihren Alfred mit einem Chili der besonderen Art ins Jenseits zu befördern. Aber entweder kommt sie nicht von Flack los, oder wenn ihr dies gelungen ist, taucht er unverhofft wieder auf. Doch zusehends spürt sie, dass dieser Mann mit seinem Hang zum Ulk etwas in ihr befreit und einen Spasmus löst, der sie während Jahrzehnten gelähmt hat. Wie verhält es sich nun aber mit dem Aufräumen, das Luisa so energisch beschlossen hat? In Genua läuft es nicht so, wie sie es sich ausgemalt hat. Zwar entsorgt sie auch hier, aber nicht den Ehemann. Zudem nimmt ihr das Leben mit seinen Launen einige Arbeit ab. So darf zuletzt sogar das Glück Luisa zuzwinkern. Mehr wäre bei Angelika Waldis nicht gestattet.