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Susanne von Mach, Main-Echo, Mai 2008

Es sieht so klein und unscheinbar aus, doch ist dies Buch ein echter, kleiner Schatz: Mit »Die geheimen Leben der Schneiderin« hat die Schweizer Autorin Angelika Waldis ein wunderbares »Romänchen« geschrieben, 150 Seiten kurz, doch viel mehr als eine Kurzgeschichte. Die Schneiderin ist die 47 Jahre alte, zurückhaltend-unauffällig wirkende Jolanda, ihre geheimen Leben ihre Gedanken: Sie erdenkt sich neue Lebensläufe für ihre Kunden, erfindet für sich ein Leben als Ehefrau eines »Knackis«, wegen dem sie die Selbsthilfe-Gruppe »Mitgefangen« aufsucht –  und wünscht verzweifelt, ihr 36 Jahren ertrunkener Bruder möge noch leben.

Weniger mitgefangen als mitertrunken scheint Jolanda, die ihre Tochter innig liebt, sich aufopfernd um die demente Mutter und den schweigsamen Vater kümmert. Mitgefangen im vermeintlichen Tod des Bruders, als hätte er ihr eigenes Atmen unmöglich gemacht – und das, obwohl Jolanda das hat, was man bei einer Jugendlichen als »Potenzial« bezeichnen würde. Sie ist klug, weise und höchst sympathisch, dabei müde und traurig. Eher zufällig macht sie sich auf die Suche nach dem Bruder. Findet ihn und findet ihn doch nicht: Angelika Waldis bleibt plötzlich vage, lässt das Ende offen, lässt keine der Figuren abschließen mit der Vergangenheit und einen neuen Weg finden. Das Fest, das Jolanda zum 80. Geburtstag der Eltern organisiert, ist ein trauriges Symbol für eine Familie, die sich nach einer traumatischen Erfahrung nichts mehr zu sagen hat, das so dringend Notwendige nicht ausspricht, in der Sprachlosigkeit gefangen ist. Was gewesen ist und sein wird, was sein darf und nicht sein kann – Angelika Waldis umreißt Möglichkeiten zwischen Realismus und Magie, ohne Lösungen anzubieten. Mutig, spannend und nachdenklich ist dieses Buch, in dem mehr steckt als in manch dickem Wälzer – lesenswert!