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19. April 2025

Kaffeepause in Marseille. Über den Rand meiner Cappuccino-Tasse blicke ich auf ein Monument. Oben schwingt eine weibliche Gestalt ein Schwert – eine Allegorie für die Freiheit oder für die heldenhafte Armee? – und soll an den deutsch-französischen Krieg im vorletzten Jahrhundert erinnern. Im Lauf der Zeit sind noch andere Gedächtnistafeln rund ums Monument angebracht worden, etwa für drei Widerstandskämpfer, die 1941 unweit von hier einen Anschlag auf das Soldatenkino der Nazis verübten und dafür exekutiert wurden. Man könnte auch für die drei trauernden Mütter ein Denkmal errichten. Waren sie stolz oder wütend oder haben sie sich einfach wund geweint? Und wie ging es den Müttern der im Kino getöteten deutschen Soldaten? Mussten sie führertreue Haltung zeigen? Wollten sie wissen, welchen Film ihr Sohn vor dem Tod gesehen hatte? Strichen sie wieder und wieder seine Bettdecke glatt? Fragen über Fragen während einer einzigen Tasse Cappuccino - und in Europa wird wieder aufgerüstet

18. April 2025

In der Höhle Cosquer wurden vor rund 30’000 Jahren Tiere an die Felswände gezeichnet – etwa Pferde, Bisons, Auerochsen, Robben – und viele menschliche Handabdrücke angebracht. Damals war das Meer noch kilometerweit weg, heute ist die Höhle nach dem Schmelzen der Eiszeitgletscher zu Vierfünfteln unter Wasser, und im Lauf des Global Warming wird sie noch ganz überflutet werden. Mit größtem Aufwand hat man in Marseille die prähistorische Unterwasserhöhle nachgebaut, »Cosquer Mediterranée« heißt das Museum mit bislang einer Million Gästen. Die Handabdrücke auf den Felsen berühren mich besonders, sie sind wie ein uralter Gruß von denen von damals. Ich habe gelesen, dass Zweidrittel der Abdrücke verkürzte oder fehlende Fingerglieder haben, und die Experten werweißen: Erfrierung? Rituelle Amputation? Künstlerische Abstrahierung? Mythische Bedeutung? Oder bloß Erosion? Werweißen ist ein schönes Wort.

17.April 2025

Beim Überfliegen der Zeitungsseiten ragt manchmal einzelnes Wort aus der Textmaße heraus. Heute war es »Bergmandel«. Was für ein schönes Wort, was kann das sein? Eine Märchenfee? Ein Alpsegen? Ein Eismännchen? Ein Versmaß? Es ist ein Baum im Regenwald von Panama, und er ragt aus dem Wald heraus wie das Wort aus dem Text. Seine Krone ist um einige Meter höher als die anderen Wipfel, und darum wird er besonders häufig vom Blitz getroffen. Aber das macht der wundersamen Bergmandel gar nichts. Sie verliert kaum ein Blatt.

15. April 2025

Von meinem Bett aus sehe ich den Himmel. Es ist der Himmel über Marseille um Mitternacht, er ist anders als das schwarze Firmament zu Hause, ist von einem dunklen Grau, das man mit Gold gefüttert hat. Und dann sehe ich, wie im Goldgrau kurz ein helles Zeichen auftaucht und sich gleich wieder auflöst, da eins, dort eins und wieder eins, wie eine flüchtig angefangene Ziffer, wie die Andeutung eines beschwingten Wesens, was ist denn das, haben die etwa Engel hier in Marseille? Ich stehe auf und stelle mich ans Fenster. Nix Engel, Möwen sind´s. Au coeur de la nuit.

14. April 2025

Im Umsteige-Bahnhof Belfort-Montbéliard, einem modernen Gebilde aus Holz, Glas und Stahl, steht an der Wand ein Klavier. Durch die leere Halle geht ein Mann mit Rollkoffer rasch darauf zu, setzt sich und spielt eine wundersame leise Melodei. Dann fliegen seine Hände schneller über die Tasten, aus der Melodei wachsen immer lautere Klänge, herzzerbrechend herrliche, rauschende Klänge, und nun eilt eine Frau Richtung Klavier, wirft den Rucksack von sich, so dass er weit über den Boden schlittert, und schreit: Ne me quitte pas! Das ist erfunden, aber wahr ist, dass dort ein Klavier steht und in über hundert weiteren französischen Bahnhöfen auch.

23. März 2025

Jetzt hat er sich endlich losgerissen aus der Umklammerung des alten Winters, der himmelhelle Frühling! Er flattert durch den Garten und fasst alles an, vielfingrig, übermütig, zupft oben an den Bäumen, raunt unten zu den Wurzeln, lässt Knospen platzen, klickt Farben an und streichelt mein Seele. Was für ein wundersames Wandern durch den Wald ist das jetzt, begleitet von der Singdrossel und vom Duft erwärmter Rinde. Sauber geschichtet und beziffert liegen die im Winter geschlagenen Stämme, und ach je – die leuchtend rote Zahl auf einem der Stapel ist der Pin-Code für mein Handy. Schluss mit Frühlingsgedusel.

17. März 2025

Die Frau wimmert, ja sie weint. »Ich habe ihn verloren!« Den Hund? Den Glauben? Den Verstand? Sie kriecht um ihr Auto im Parkhaus, leert die Handtasche auf dem Boden aus, stülpt den Einkaufskorb um, Äpfel kugeln unter den Wagen. Schluchz, der Autoschlüssel kommt nicht zum Vorschein. »Halb so schlimm«, meint ein Mann im Vorbeigehen. Wenn der wüsste! Der neue Geliebte wird nicht auf die Frau warten und für immer verschwinden. Oder sie verpasst das Anstellungsgespräch, und der Traumjob geht an ihre Feindin. Oder sie kann ihr Kindergartenkind nicht abholen, und es wird auf dem einsamen Nachhauseweg entführt. Oder sie kommt zu spät ins Altersheim, und ihre Mutter ist ohne ein letztes Adieu gestorben. Lauter mögliche Kurzgeschichten. Warum macht die Frau nicht einfach ein paar Anrufe auf dem Handy? Hat sie das auch verloren?

14. März 2025

Die beheizte Wimpernzange, die gibt es. Ich habe ein Inserat gesehen. Die Welt braucht nicht mehr ohne beheizte Wimpernzange durchs All zu segeln, endlich eine gute Nachricht. »Sie erreichen perfekt gelockte Wimpern im Handumdrehen«, heißt es im Inserat. »Passend für jeden Wimperntyp, mit einem Video-Tutorial, vier Temperatureinstellungen, einem Antiverbrennungskamm und einer Schutzrille. « Was will man mehr. In der Erdgeschichte ist das Zeitalter des Menschen ja erst ein Wimpernschlag, und doch ist beheizte Zange bereits erfunden!

12. März 2025

Mein Laptop hat mit einem Sprung im Glas lange überlebt, aber nun spinnt er ganz und gar - jagt Dateien, Bilder, Texte auf dem Bildschirm wild durcheinander. Das Glas zu ersetzen, lohne sich nicht für mein altes Gerät, sagte der freundliche Fachmann im Computershop. Eine Funktionierung sei danach nicht garantiert. Auch die Technik sei leider defektionalisiert, und darum rate er ab von einer Reparaturation. Fast hätte ich mich beim Verlassen des Ladens für die Informationität bedankt und »Auf Wiedersehung« gesagt.

16. Februar 2025

Auf der Website von Virgin Galactic kann ich einen Platz für einen Weltraum-Trip reservieren. Ich brauche nur 150 000 US-Dollar anzuzahlen, und wenn es losgeht, 300 000 US-Dollar nachzuschieben. Damit ist der Vorbereitungskurs, der Gesundheitscheck und der Flug bezahlt. Dieser dauert 90 Minuten, 5 Minuten Schwerelosigkeit inklusive. 8 Personen haben Platz. 17 Fenster garantieren den Blick auf die Erde. Aber ich reserviere nicht. Die Warteliste ist zu lang, und ich müsste eine neue Reisetasche kaufen, und überhaupt will ich meinen Garten gar nicht von oben sehen.

14. Februar 2025

So unerwartet wie heute hat mich die Alterskeule noch nie getroffen. Es ist ja so, dass man sich Schritt für Schritt daran gewöhnen kann, als Alte wahrgenommen zu werden. Ist man fünfzig, pfeift einem kein Mann mehr hinterher. Ist man sechzig, bekommt man ein Probetütchen mit Antifaltencreme geschenkt. Ist man siebzig, wird einem im Tram ein Sitz offeriert. Ist man achtzig, fragt der Bootsführer beim Einsteigen »Geht´s?« Und heute nun: Im Reisezentrum im Bahnhof Zürich händigte mir die Empfangsfrau das Ticket B558 für die Warteliste aus. Sie sagte, die ungefähre Wartezeit betrage zwanzig Minuten. Die genaue Zeit könne ich mittels QR-Code auf dem Ticket erfahren. »Haben Sie so ein modernes Telefon?«, fragte sie. Sie meinte ein Handy. Sie schleuderte mich in die Steinzeit.

10. Februar 2025

Vom Kreuz Jesu´ soll es so viele Splitter als Reliquien geben, dass man sie zu zwanzig Kreuzen zusammenleimen könnte. Ich weiß nicht, wie viele Stoff-Fetzen von Holy Trump im Umlauf sind. Seit dem Sommer 2024 sind sie zu kaufen: Stücke vom Anzug, den Trump im TV-Duell gegen Biden getragen hat. Allerdings muss man zuerst für 1485 US-Dollar 15 digitale Sammel-Karten mit Trump-Porträts erwerben, damit man per Post eine physische Sammelkarte erhält, in die ein kleines Stück von Trumps Anzug eingearbeitet ist. Des Kaisers alte Kleider – so heißt ein neues Märchen.

4. Februar 2025

Ich habe es gewagt, den neuen Handke zu kaufen. »Schnee von gestern, Schnee von morgen«. Ich liebte seine frühen Bucher wie etwa »Wunschloses Unglück«. Später wurde er mir fremd. Nun, das neue Buch ist schmal, der Klappenhinweis vielversprechend. Mit freudiger Neugier fange ich zu lesen an und sitze bald ratlos da. Der Text mutet mich an wie ein endloser Rülpser von allem, was sich Handke irgendwann einverleibt hat. Es ist ein Selbstgespräch in vielen einfachen Sätzen, getrennt durch viele Punkte, aber der Rülpser macht bei den Punkten nicht halt, er überrollt mich röhrend, ich gebe auf, ich bin zu dumm für Handke.

22. Januar 2025

Seit gestern besitze (wortwörtlich) ich einen richtigen Lesesessel - aus weißem Korbgeflecht, mit hellen Polstern, hohem Rücken, weit geschwungenen Armlehnen, perfekt. Ich habe immer am Tisch oder im Bett gelesen, aber inzwischen ist der Tisch zu hart und das Bett zu weich geworden. Meine erste Lektüre im neuen Sessel ist ein schmales Reclambändchen: »Tractatus Logico-Philosophicus« von Ludwig Wittgenstein. Der erste Satz lautet: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.« Der zweite Satz lautet: »Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.« Wie immer kann ich es mir nicht verkneifen, rasch einen Blick auf die hinterste Seite zu werfen. Der letzte Satz lautet: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Das klingt gut. Ich hole mir einen Kaffee, um mich dann an den dritten Satz machen, aber das geht nicht mehr. Der Sessel ist von den beiden Katzen belegt, wie Yin und Yang liegen sie aneinander und sind die Gesamtheit der Tatsachen.

21. Januar 2025

Seltsam: Das Wort Mut hat keinen Plural. Dabei gibt es doch so viele Müter. Etwa den, am Bungee-Seil in die Tiefe zu springen. Oder den, wenn ein Ja erwartet wird, Nein zu sagen. Oder den, dem befreundeten Autor mitzuteilen, sein neues Buch sei misslungen. Oder den, als Sechsjährige abends in den dunklen Keller zu steigen, um für Vater eine Weinflasche zu holen. Oder den, sich aus der Umklammerung eines Angreifers durch einen Biss in seine Hand zu befreien. Oder den, als Frau Bischöfin im Gottesdienst einen soeben gekrönten US-Präsidenten zu bitten, er solle sich der Menschen erbarmen, die jetzt Angst haben. Nämlich vor ihm und seinen ungeheuerlichen Maßnahmen. Mariann Budde heißt sie, die Mutige.

7.Januar 2025

Meine freundliche Coiffeuse – 28, langes Blondhaar, Zürcher Dialekt – hat sich in einen Tamilen verliebt, ist enttäuscht worden, hat sich bald darauf in einen Pakistani verliebt und ist nun mit ihm in eine gemeinsame Wohnung gezogen, und weil er beim Döner bis Mitternacht arbeitet, hat sie sich zum Streicheln zwei Zwerghasen gekauft, und einer von ihnen hat am Boden Schokowaffeln gefunden und gefressen und sich danach halbtotgekotzt. Das alles erfahre ich, während mein Haar kürzer wird. Der Pakistani sieht nicht nur gut aus, er ist auch gescheit, kann jedoch weder lesen noch schreiben, auch nicht in seiner eigenen Sprache. Text auf dem Handy wandelt er in Ton um. Sie lässt ihm gerne ein Bad einlaufen, er hat einen Gebetsteppich, und sie wollen mal Kinder haben. Das alles erfahre ich, während mein Haar geföhnt wird. Dann gehe ich leicht verstört und leicht verschönert nach Hause.

2. Januar 2025

Das Jahr ist neu, und wie zur Feier steht auf der Wiese, nah am Weiher, ein stolzer Vogel, nein, kein Geier, sondern ein grauer, schlanker Reiher, packt eine Maus, der schlaue Meier, und ist kurz etwas sorgenfreier. (Es war deutlich zu sehen, wie die lebende Maus durch den langen Reiherhals nach unten ruckelte, und kurz danach noch eine zweite. Vielleicht haben sich die beiden in der dunklen Tiefe noch eine Weile unterhalten (etwa über die Kürze oder Länge eines Jahrs und eines Lebens).