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»Als der Boden davonflog«, Jugendbuch

»Als der Boden davonflog«, Jugendbuch (Leseprobe)

Kapitel 1
Auf dem Kirchdach

Hanno spürte etwas Kühles an den Füßen, aber achtete nicht weiter darauf. Er hatte eine Karte von Feuerland auf dem Bildschirm und versuchte sie zu speichern, doch das ging nicht. Feuerland rutschte weg, und der Computer meldete: Flut-Fehler fz309. Hanno wusste nicht, was ein Flutfehler war. Er hoffte, Marie würde ihn nicht ausschimpfen. Sie war nur zwei Jahre älter als er, aber sie sagte ihm dauernd, was er falsch machte. Er hatte nur noch fünfzehn Minuten, dann war es sechs Uhr, dann durfte Marie an den Computer.

Gerade als Hanno aus dem Fenster sah, flog ein Boden vorbei. Es war der rote Kinderzimmerboden. Hanno sah im Teppichflor den kahlgewetzten Weg von Türe zu Tisch. Der Boden flog ganz langsam vorbei, schaukelte leicht. Hanno glaubte es erst, als er auf seine Füße sah. Sie standen auf der Luft, auch der Tisch, der Stuhl, das Kajütenbett standen auf der Luft. Statt des roten Bodens sah Hanno in der Tiefe das Zimmer von Herrn Kramer. Herr Kramer und noch jemand lagen im Bett.

Ich muss den Boden zurückholen, dachte Hanno, sonst wird mich Marie bestimmt wieder ausschimpfen. Kurzentschlossen kletterte er aufs Fenstersims und rannte dem Boden nach. Der schwebte in einiger Entfernung über die Dächer – ein rotes Floß im glasklaren Luftsee. Das kann gar nicht sein, dachte Hanno, während er über den Luftsee rannte, ich müsste doch in die Tiefe stürzen. Kaum war der Gedanke draußen, sank Hannos linkes Bein ruckartig ein. Erschrocken zog er es hoch. Direkt neben seinem Ohr sagte eine Stimme:

Das Nichts sprach zum Etwas:

Ich bitte dich, lass das!

Hanno konnte niemanden sehen, nur weit unten allerlei Menschchen, die bewegten sich links und rechts der Straße, und allerlei Autöchen, die liefen manierlich in beide Richtungen. Das alles sah wie ferngesteuert aus, sehr hübsch und sauber, eine vergnügliche Welt. Die Kamine auf den Dächern schienen sachte zu tanzen, und manch ein Haus war beflaggt mit bunter Wäsche an Wäscheleinen. Der Himmel stülpte sich dunkelblau über die ganze Stadt. Hanno kam es vor, als hätte man ihn mit Glück besprüht.

Vom Kirchdach winkte ihm jemand zu, jemand unter einer sehr großen Mütze. Es wäre schön, mal auf dem Kirchdach zu stehen, dachte Hanno, aber er durfte keine Zeit verlieren, wenn er den Boden noch erwischen wollte. Der hatte an Tempo zugelegt. »Pass doch auf!«, sagte jemand, und Hanno spürte, wie etwas weich an seine Schläfe prallte, dann war es weg. Hanno drehte sich um und sah ein dunkles Dreieck, von dem etwas Rosafarbenes runter hing, das musste eine Taube von hinten sein. »Pass doch selber auf!«, rief er ihr nach, aber sie reagierte nicht, vielleicht waren Tauben taub.

In dieser Taubensekunde war der rote Boden irgendwo abgetaucht. Hanno sah ihn nicht mehr, und er beschloss, ihn nicht weiter zu suchen. Er drehte ab aufs Kirchdach. Hier war das Gehen beschwerlicher, Hanno merkte erst jetzt, dass er keine Schuhe anhatte, die lagen noch unter seinem Tisch auf der Luft. Den einen Fuß in der Dachrinne, den anderen auf den Ziegeln, hoppelte er auf den Jemand mit der großen Mütze zu. Der winkte erneut. Als Hanno unter die große Mütze blickte, erschrak er. Er sah eine runde weiße Geschwulst mit drei schrumpligen kleinen Vertiefungen. Eine der Vertiefungen sagte »Guten Abend«, das musste ein Mund sein. Und sie sagte »Mein Name ist Schuklat, und wer sind Sie?« Hanno wollte gerade weglaufen, da streckte ihm Schuklat die Hand entgegen.

»Hanno«, sagte Hanno und ergriff verlegen die große weiße Hand.

»Herr Hanno!«, sagte Schuklat, »wie schön, Sie hier zu treffen. Als Ent-decker ist man doch meistens sehr allein.«

»Entdecker?«, fragte Hanno.

»Ich bin städtischer Ent-decker«, sagte Schuklat nicht ohne Stolz.

Hanno war beeindruckt. »Haben Sie schon etwas entdeckt?«, fragte er höflich.

»Sämtliche städtischen Ziegeldächer«, sagte Schuklat. »Ich bin als einziger dafür zuständig. Und da jedes Dach von Gesetzes wegen alle zwei Jahre ent-deckt werden muss, habe ich ganz schön viel Arbeit. Sie verstehen, Herr Hanno?«

Hanno verstand überhaupt nichts.

»Die Arbeit ist nicht ungefährlich«, fuhr Schuklat fort, »ein Dach wird ja ent-deckt, damit die im Hause angestauten Reden, Gedanken, Träume und so weiter entweichen können. Was da entweicht, in großen dichten Schwaden, ist manchmal recht giftig. Sie verstehen, Herr Hanno?«

Hanno verstand immer noch nichts.

Schuklat bückte sich und hob einen Ziegel hoch. »Denken Sie nur an die vielen alten Streite, die aus einem Haus entweichen. Davon atme ich einiges ein. Darum ist mein Gesicht so geschwollen«, sagte Schuklat und warf den Ziegel in hohem Bogen weg.

»Und dann?«, fragte Hanno.

»Dann«, sagte Schuklat und warf einen weiteren Ziegel in die Luft, »dann, wenn das Dach vollständig ent-deckt ist, wird es wieder ge-deckt.«

Hanno wartete auf einen Aufschrei von der Straße her. Aber die Ziegel schienen nichts und niemanden getroffen zu haben. Schuklat warf nun Ziegel um Ziegel in die Luft, mit großem Fleiß und schöner Eleganz. »Könnte man die Ziegel statt wegzuwerfen nicht wiederverwenden?«, fragte Hanno schüchtern.

»Die kommen wieder, Herr Hanno«, sagte Schuklat, und seine Mundvertiefung zog sich ganz leicht in die Breite. »Die Ziegel kennen ihren Platz. Die kommen alle wieder und legen sich dahin, wo sie hingehören. Sie sind wie die Bienen, die ausschwärmen und in ihren Stock zurückkehren. Haben Sie denn noch nie einen Ziegelschwarm gesehen, Herr Hanno?« Hanno schüttelte beschämt den Kopf, und Schuklat arbeitete weiter. Flog eine Taube vorbei, rief er »Guten Tag, Frau Pfung! Hallo, Frau Krotauer! Grüß Gott, Frau Schwaupe!« Er schien sie alle zu kennen. Einmal hielt er für ein paar Atemzüge inne und wischte sich Schweiß vom Gesicht. »Kirchendächer sind Schwerarbeit«, seufzte er. »Was da entweicht an Gebeten, das haut einen um. Und dann diese Inbrunst, diese Inbrunst ... Guten Tag, Frau Zirre!«

Von dem, was Schuklat zu schaffen machte, spürte Hanno nichts. Aber Schuklats Gesicht schien mit jedem Ziegel noch kreidiger und noch dicker zu werden. Hanno überwand sich zu sagen »Kann ich Ihnen helfen?«

»Gerne, Herr Hanno, werfen Sie, werfen Sie!«, sagte Schuklat, und so schleuderte Hanno Ziegel um Ziegel um Ziegel in die Luft, und es schien ihm, als hätte er nie etwas Schöneres gemacht.

»Kommt hier eigentlich nie ein Taubenmann vorbei?«, fragte er, als sich Schuklat zu einer Pause auf den Rücken legte und einer Taube nach der andern einen Gruß zurief, der Frau Flanze, der Frau Kresing, der Frau Schlohmann. »Durchaus, durchaus, Herr Hanno, antwortete Schuklat, »aber ich kann die Taubenmänner nicht von den Taubenfrauen unterscheiden. Zum Ausgleich nennen mich die Tauben Frau Schuklat.«

»Sie verstehen die Tauben?«

»Ich spreche mittlerweile ganz gut taubisch«, sagte Schuklat, und dann gurrte er Hanno etwas vor.

Hanno lachte. »Ich glaube Ihnen kein Wort, ich meine keinen Gurr!«

»Dann kommen Sie doch nachher mit. Heute Nacht ist Tauben-Philosophietreff. Ich bin eingeladen.«

»Ich glaube nicht, dass ich kommen kann. Ich sollte nämlich meinen Boden zurückholen. Ich hoffe, ich finde ihn noch.«

»Ach, hoffen Sie nicht zu viel, Herr Hanno. Böden sind unberechenbar. Ich hatte mal einen, der blieb fünf Wochen weg, obwohl er ganz genau wusste, dass ich es nicht mag, wenn mein Bett in der Luft steht. Er kam völlig verdreckt wieder und behauptete, er sei in den Masurischen Sümpfen gewesen.«

»Sie verstehen die Böden?«

»Ja, ich kann ein bisschen bodisch, das nötigste. Ich war mal auf einer Boden-Protestversammlung. Das Thema hieß Wir lassen nicht mehr auf uns herum trampeln. Es waren so viele Böden da, dass sie sich senkrecht stellen mussten.«

Hanno zögerte, ob er Schuklat glauben sollte. Dann tat er es doch. Denn alles, was Schuklat sagte, klang so unglaublich wahr.

»Noch einen Schluck, dann wieder an die Arbeit«, sagte Schuklat und goss sich aus einer Thermosflasche schwarze Flüssigkeit in ein Glas.

»Was trinken Sie da?«, fragte Hanno, der gemerkt hatte, dass Schuklat es gerne mochte, wenn man ihn fragte.

»Wasser!«, sagte Schuklat.

»Aber es ist ja schwarz.«

»Ich hab es eben nachts abgefüllt«, sagte Schuklat, nahm einen großen Schluck, und rülpste so laut, dass Hanno vor Schreck auf den Ziegeln ausrutschte.

»Bitte entschuldigen Sie, Herr Hanno«, sagte Schuklat, »das hat damit zu tun, dass ich den ganzen Tag so viele abgestandene Sätze einatme. Manchmal wünsche ich mir, die Menschheit würde aufhören zu reden und zu denken.«

Wieder warfen Schuklat und Hanno Ziegel vom Dach. Hanno konnte sich noch so anstrengen – in der Zeit, in der Hanno einen Ziegel warf, warf Schuklat deren drei, und zwar ausschließlich mit der rechten Hand. Die Linke brauche er für seine andere Arbeit, hatte Schuklat gesagt.

»Nicht erschrecken, Herr Hanno«, sagte Schuklat, da schlug die Kirchenglocke sechs, so laut, dass sich Hanno an den Blitzableiter klammerte. Schuklat packte die Thermosflasche in eine Mappe und lief los, ohne sich nach Hanno umzudrehen. Verwundert sah ihm Hanno nach.

»Kommen, Sie, Herr Hanno, kommen Sie«, rief Schuklat im Laufen, also rannte Hanno ihm nach und holte ihn ein, und so liefen sie nebeneinander auf der Abendluft über die Stadt. Eine Stimme sagte:

Pack es, sonst brichts!,

sprach das Etwas zum Nichts.

Hanno sah zu Schuklat, aber der schien nichts gehört zu haben. Über dem Stadtpark begann Schuklat in einer weiten Spirale hinabzusteigen und Hanno tat es ihm nach. »Wir sind zu spät«, keuchte Schuklat, »die Tauben sitzen schon.«

Kapitel 2
Die Taubenversammlung

Die Tauben saßen unter dem runden Dach, wo an Sonntagen Musik gespielt wurde. Es mochten etwa hundert sein. Ihr hundertfaches Gurren klang wie ein leiser Motor. Er erstarb, als sich Hanno und Schuklat dazusetzten. Dann flatterte eine Taube auf, ließ sich auf einer anderen Taube nieder und begann zu sprechen. Schuklat nickte. Als sie mit Sprechen fertig war, ließ sich die Taube von der Taube rutschen. Sogleich flatterte eine andere auf, ließ sich auf einer anderen nieder und ergriff das Wort. Hanno sah eine Weile zu, aber weil er nichts verstand und nicht wusste, warum Schuklat jeweils klatschte, fing er an sich zu langweilen und an seinen Hunger zu denken. Schuklat holte etwas aus seiner Mappe und streckte es Hanno entgegen. Es war ein Doppelbrot mit Käse dazwischen. Erst grauste es Hanno ein wenig, weil er an Schuklats Mundvertiefung dachte, für die das Brot gemacht worden war. Aber dann aß er es gierig. »Worüber reden sie?«, flüsterte Hanno. Da krümmte Schuklat seinen weißen Finger und bedeutete Hanno, ihm ins Freie zu folgen.

»Sie sprechen über Marder-Dilemma. Ich nehme an, Sie kennen diese philosophische Frage«, sagte Schuklat. Hanno schüttelte den Kopf. »Dann will ich sie Ihnen gerne unterbreiten:

Ein Marder schnappt sich ein Taubenkind aus dem Taubennest. Die Taubenmutter fleht ihn an, ihr das Täubchen zurückzugeben. 'Also gut', sagt der Marder gnädig, während er das Täubchen geschickt festhält, 'ich gebe dir das Kind zurück, wenn du richtig voraussagen kannst, was ich tun werde. Sagst du aber falsch voraus, werde ich dein Kind fressen.' – 'Ach, ach, ach', jammert die Taube, 'du wirst mein Kind fressen!' – 'Ist das deine Voraussage? Dann kann ich dir dein Kind nicht wiedergeben', sagt der schlaue Marder. 'Denn wenn ich es dir gebe, heißt es, dass du falsch vorausgesagt hast. Ich habe aber erklärt, dass ich dein Kind fresse, wenn du falsch voraussagst!'

Gerade als Hanno begriff, was der Marder meinte, rauschten alle Tauben miteinander unter dem runden Dach hervor und flogen auf und davon. »Seltsam«, sagte Schuklat und sah auf sein uhrloses Handgelenk, »sie haben vorzeitig aufgehört.« Dann fuhr er mit dem Marder-Dilemma fort:

'Im Gegenteil', sagt die Taubenmutter nun mutig, 'du kannst mein Täubchen nicht fressen. Denn wenn du es frisst, dann habe ich richtig vorausgesagt. Und wenn ich richtig vorausgesagt habe, gibst du mir mein Täubchen zurück.'

Was nun, Herr Hanno?«

Marie würde jetzt sicher etwas Gescheites sagen, dachte Hanno, aber ihm fiel gar nichts ein. Er wunderte sich, dass ausgerechnet Tauben so kompliziert denken konnten, er hatte sie eher für dümmlich gehalten. Ob ihm Schuklat wohl die Wahrheit erzählt hatte? Fragend blickte Hanno zu Schuklat, doch da war kein Schuklat, Schuklat war verschwunden.

Der Stadtpark war still und leer.

Hanno fiel ein, dass er spätestens zum Nachtessen zuhause sein musste, aber ihm schien, es sei kaum Zeit vergangen. Der Himmel spannte sich immer noch makellos dunkelblau über die Stadt. Seltsam, dachte Hanno. Und dann sah er Schuklat, wie er mit kurzen, hastigen Schritten aufwärts ging, er war bereits auf Dachhöhe. Hanno hob den Fuß und stellte ihn prüfend auf die Luft. Er sank kein bisschen ein. Und schon rannte Hanno Schuklat hinterher, geradewegs hinauf zu den Dächern und weiter über den Schluchten der Straßen. Schuklat hielt sich strikt an die Straßenschluchten, wogegen Hanno da und dort eine Abkürzung über ein zwei Häuser nahm. Trotzdem holte er Schuklat nicht ein. Keuchend lief er am rotweißgeringelten Turm der städtischen Verbrennungsanlage vorbei. Da unten arbeitete sein Vater. Als Hanno daran dachte, sank er ganz kurz ein. Vielleicht war Vater aber schon nach Hause gegangen. War es nicht bereits Abend?

Gleich hinter dem Turm sah Hanno den kleinen Koffer. Es war ein grasgrüner glänzender Koffer. Er stand ziemlich verloren auf der Luft, wie ein wunderschön schimmernder Riesenkäfer, der auf seinem Flug nicht weiter wusste. Den nehm ich mit, dachte Hanno, und packte im Vorbeilaufen den Griff. Doch der Koffer riss Hanno heftig zurück. Was zum Teufel, dachte Hanno, warum lässt sich der Koffer nicht hochheben? Je wilder Hanno am Koffer rüttelte, umso heftiger wollte er ihn haben. Aber der Koffer blieb, wo er war, fest verankert auf der Luft. Schuklat! Hanno rannte weiter, er wollte Schuklat nicht verlieren. Wahrscheinlich hatte er es so eilig, weil er nicht zu spät zu seiner linkshändigen Tätigkeit kommen durfte.

Geht die Zeit,

oder eher

der Geher?

Wieder diese Stimme am Ohr und niemand zu sehen. Blöde Frage, dachte Hanno. Natürlich ging die Zeit, das war doch auf jeder Uhr zu sehen.

Obwohl Hanno beim grünen Koffer einige Zeit verloren hatte, war er Schuklat plötzlich viel näher als vorher. So nah, dass er sogar Schuklats Schuhe sah. Es waren zwei verschiedene.

»Herr Schuklat!«, rief Hanno.

»Kommen Sie! Kommen Sie!«, rief Schuklat zurück, ohne sich umzudrehen.

»Ihre Schuhe«, sagte Hanno, als er auf Schuklats Höhe war.

»Meine Schuhe?«

»Sie haben verschiedene Schuhe angezogen.«

»Ja und? Warum soll ich gleiche Schuhe anziehen, wenn mir verschiedene zur Verfügung stehen?«

»Ich dachte nur.«

»Denken ist immer gut«, sagte Schuklat, »die Schwierigkeit ist bloß, dass man nie weiß, ob man zu Ende gedacht hat.«

Sie liefen nun abwärts, an vielstöckigen rissigen Fassaden vorbei, und setzten vor einem fabrikähnlichen roten Gebäude auf.

»Haben Sie den grünen Koffer auch gesehen?«, fragte Hanno.

Schuklat nickte.

»Und warum haben Sie ihn stehen lassen?«

»Wie Sie sehen, verfüge ich bereits über ein transportables Behältnis«, sagte Schuklat und wühlte in seiner abgewetzten braunen Mappe.

»Ich wollte den Koffer mitnehmen«, sagte Hanno, »aber es ging nicht.«

»Er war wohl abgeschlossen«, sagte Schuklat und wühlte immer noch in seiner Mappe.

»Abgeschlossen?«, fragte Hanno. »Mag sein, aber warum ließ er sich nicht heben?«

»Es gibt bekanntlich drei Arten, etwas abzuschließen. Erstens: Man schließt das Ding. Dazu braucht es einen Schlüssel. Oder zweitens: Man schließt das Ding an die Umgebung. Auch dazu braucht es einen Schlüssel. Oder drittens: Man schließt die Umgebung an das Ding. Dazu braucht es keinen Schlüssel, nur Zeit. Viel Zeit.«

So was Wirres, dachte Hanno.

»Der grüne Koffer« fuhr Schuklat fort, »ist vermutlich auf die dritte Art abgeschlossen worden. Sie haben, Herr Hanno, also theoretisch die Möglichkeit, den Koffer zu heben, sobald ihn die Zeit wieder von der Umgebung gelöst hat.«

»Vielen Dank«, sagte Hanno erfreut. Er musste den wunderbaren Koffer unbedingt haben. Er legte ihn in Gedanken auf sein Bett, und dabei fiel ihm ganz kurz ein, wie Mutter ärgerlich wurde, wenn man zu spät zum Nachtessen kam.

Steht die Zeit,

oder eher

der Steher?

Wer hatte nun schon wieder gesprochen? Schuklat war es nicht. Schuklats Mundvertiefung war so klein wie noch nie.

Als Schuklat das rote Gebäude betrat, zögerte Hanno. Bis jetzt war er Schuklat ohne jede Überlegung gefolgt, zu den Tauben und durch die Lüfte. Aber mit Schuklat irgendwo hineinzugehen, hinter eine geschlossene Türe, machte Hanno plötzlich Angst. Was wusste er denn von diesem seltsamen Menschen, der schon fast kein Mensch war mit seinem absolut scheußlichen Aussehen. Von diesem seltsamen Typen, der Ziegel von den Dächern warf und so viel log, dass einem schwindlig wurde. Oder waren es schwindelerregende Wahrheiten, die er von sich gab? Was, wenn Schuklat da drinnen auf ihn losging, wenn Schuklat ein Wahnsinniger war, ein Blutrünstiger, ein Kindermörder? Wenn er in seiner Mappe ein Messer hatte?

Über dem Tor, durch das Schuklat verschwunden war, stand in leicht verblichenen Lettern: Bedingung.

Ach was, dachte Hanno, holte Luft und ging durch das Tor hinein, ins Halbdunkle.

Drittes Kapitel
In der Bedingung

Das erste, was Hanno auffiel, war das Geräusch, ein stetiges feines Schleifen, wie wenn man einen Schlitten hinter sich her zog. Wieder spürte Hanno, wie die Angst kam. Was tat Schuklat hier drin?

Schuklat stand vor einem Förderband, das sich – beladen mit verschiedensten Dingen – an ihm vorbei bewegte. Das Band kam aus dem Dunkeln ans Licht und verschwand wieder im Dunkeln. Schuklat hatte so etwas wie einen Dirigentenstab in der linken Hand und zeigte damit kurz auf jedes einzelne Ding auf dem Band. Hanno sah Tassen, Stühle, Telefone, Schreibstifte, WC-Bürsten, Schrauben, Schlittschuhe, Büstenhalter, es war ein Riesendurcheinander. Auf einer Rolle Gartenschlauch lag eine Mundharmonika, zwischen Bratpfannen stand ein Porzellanhund. Kaum merklich ging Schuklats Dirigentenstab auf und ab, hin und her.

Als Hanno näher trat, sah er, wie Schweißtropfen unter Schuklats Mütze hervor rannen und sich in den Gesichtsvertiefungen sammelten. Hanno fragte »Was machen Sie da?«, aber Schuklat gab keine Antwort. Er hielt den Blick konzentriert auf das Förderband gerichtet, das hieß: Stör mich nicht. Oder besser: Stören Sie mich nicht. Hanno fragte sich, ob Schuklat auch die Tauben siezte.

Es kamen Pantoffeln vorbei, Computermäuse, Ölkanister, Fahrradklingeln, künstliche Gebisse, ein Kinderwagen, Backsteine, ein Silbertablett, Gummistiefel – dann stand das Förderband still. Und Schuklat stöhnte leise auf.

»Dreierpause«, sagte er. »Alle drei Minuten hab ich drei Minuten Pause.« Er holte aus der braunen Mappe ein Geschirrtuch, wischte damit den Schweiß weg und dann sah er Hanno an. Er sah ihn so direkt an, dass Hanno erschrak. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass diese bleiche unförmige Teigmasse ein Gesicht war.

»Pause wovon?«, fragte Hanno.

»Ich bedinge die Dinge«, sagte Schuklat. »Ich sage ihnen, was sie sind: Stuhl, Teller, Tasse. Es fällt mir leicht. Ich mache das mit links. Mein Problem ist nur das Tempo. Das Förderband ist zu schnell. Es kommt vor, dass ich mich in der Eile verspreche. Und das hat böse Folgen: Wenn ich einem Teller Tasse sage, muss er als Tasse durchs Leben. Das, Herr Hanno, ist für den Teller ein furchtbarer Zustand. Stellen Sie sich einen Teller vor, der als Tasse verwendet wird. Man hasst ihn, weil man nicht richtig daraus trinken kann. Also lässt man ihn irgendwo stehen oder schmeißt ihn in den Müll. So ist das, wenn man nicht sein darf, was man ist. Stellen Sie sich vor, Sie, Herr Hanno, müssten als Staubsauger durchs Leben.«

»Ich habe doch gar kein Kabel«, sagte Hanno.

»Eben«, sagte Schuklat, »man würde Sie deswegen beschimpfen. Man würde Sie kabellos ein paarmal an den Haaren über den Teppich ziehen, um zu sehen, ob Sie trotzdem Staub saugen. Dann würde man sie für immer in eine dunkle Ecke stellen.«

Zum ersten Mal war Hanno so richtig froh, dass er Hanno sein durfte.

»Wer stellt denn die Dinge aufs Band?«, fragte er.

»Die Existenzia«, sagte Schuklat.

»Kennen Sie die?«

Schuklat lachte meckernd. »Wo denken Sie hin, Herr Hanno. Das ist etwa so, als fragten Sie mich, ob ich Frau Sonne oder Herrn Urknall kenne. Die Existenzia ist von unfassbarer Wichtigkeit, die gibt sich nicht mit dem kleinen Schuklat ab. Sie kontrolliert sämtliche neue Existenzen auf dieser Welt.«

»Die Dinge auf dem Band sind aber nicht alle neu«, sagte Hanno.

»Sehr gut, Herr Hanno, Sie haben genau beobachtet«, sagte Schuklat. »Diesen Dingen ist aus irgendeinem Grund die Existenz abhanden gekommen, und Existenzia gibt ihnen hier eine neue Chance.«

Nun fing das schleifende Geräusch wieder an, das Band lief. Schuklat zeigte mit dem Stab auf die Dinge. Hanno versuchte lautlos den Dingen zu sagen, was sie waren – Schuh, Schirm, Schere, Topf – aber sie liefen zu rasch an ihm vorbei, und Hanno gab auf. Er wunderte sich, warum die sagenhafte Existenzia einem abgewetzten, beinah haarlosen Handbesen eine neue Chance gab. Er nahm sich vor, Schuklat zu fragen, wenn erneut Dreierpause war.

»Wir haben es hier nur mit nicht wachsenden Existenzen zu tun«, sagte Schuklat, als das Band wieder stand. »Das haben Sie, Herr Hanno, bestimmt gleich gemerkt.« Hanno schämte sich, dass ihm das nicht aufgefallen war. »Für sogenannte Lebewesen«, fuhr Schuklat fort, »hat Existenzia andere Förderbänder eingerichtet. Dort arbeiten sehr viel gescheitere Leute als ich. Ich bin bloß ein einfacher Bedinger.«

»Bedingen ist aber was Schwieriges«, sagte Hanno und dachte an den kaputten Handbesen. »Ich könnte das nie.«

»Es gibt Hunderttausende von Bedingern auf der Welt«, sagte Schuklat, »und Hunderttausende von Dingförderbändern. Wo immer nachts das leise Schleifen zu hören ist, da ist ein Bedinger vor seinem Band am Werk.«

Hanno hatte immer noch Hemmungen, Schuklat direkt ins weiße Schwammgesicht zu blicken.

»Am Tag ent-decken Sie Dächer und nachts bedingen Sie Dinge – schlafen Sie eigentlich nie?«, fragte Hanno.

»O doch«, sagte Schuklat und gähnte. »Ich schlafe meistens von vierundzwanzig bis siebenundzwanzig Uhr, das reicht mir.«

»Aber diese Stunden gibt es doch gar nicht.«

»Warum bitte?«

»Weil die Uhr bei vierundzwanzig wieder von vorn anfängt.«

»Dass meine Stunden auf der Uhr nicht zu sehen sind, heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Haben Sie schon mal den Wind gesehen, Herr Hanno?«

»Ja klar, er wirbelt Papier auf und knickt Äste.«

»Sie haben Papier und Äste gesehen, aber nicht den Wind, mein Lieber.«

Hanno mochte nicht, dass Schuklat ihn »mein Lieber« nannte. Er wollte nicht ein Lieber von jemandem sein, der ihm unheimlich war. Als das Band wieder anlief, beschloss Hanno zu gehen. Er sah sich nach dem Eingangstor um, aber außer dem Förderband lag alles im Dunkeln. Bestimmt war inzwischen auch draußen schwarze Nacht. Und er war nicht zum Nachtessen erschienen. Was seine Familie wohl dachte? Vielleicht hatten sie die Polizei gerufen. Verschwunden: 1 Sohn namens Hanno und 1 Kinderzimmerboden.

»Herr Schuklat«, sagte Hanno, »ich will nach Hause.«

Schuklat reagierte nicht. Ich muss die Dreierpause abwarten, dachte Hanno. Auf dem Band zogen Dinge vorbei, die Hanno noch nie gesehen hatte, eigenartige Werkzeuge, für einen Zahnarzt vielleicht, auch seltsam schlaffe Formen aus Gummi sowie kleinere und größere Häufchen aus schwarzen Buchstaben. Das alles musste für Schuklat besonders schwierig zu bedingen sein. Bestimmt lief ihm der Schweiß übers Gesicht. Hanno sah nicht hin.

Und dann kam das große weißblau gestreifte Ding mit dem schwarzen Deckel. Was war denn das? Verwundert sah Hanno zwei Hände, die um zwei Knie geschlungen waren. Schuklat ließ seinen Stab fallen, warf sich auf das blauweiße Stück und riss es vom Band.

»Autsch«, sagte jemand. Es war nicht Schuklat, der das gesagt hatte. Die Stimme war unter dem schwarzen Deckel hervorgekommen.

Der Deckel war ein Hut.

Das blauweiß Gestreifte war ein Hemd.

Das Ding war ein Mensch.

Der Mensch war ein Mädchen.

»Mensch«, sagte Schuklat, »was machen Sie denn da?«

Kapitel 4
Das Mädchen aus Fabul

Langsam stand das Mädchen auf. Das Hemd fiel ihm weit über die Knie. Es zog den Hut, wobei ganz viel ganz helles Haar zum Vorschein kam, und sagte »Danke sehr.«

Hanno und Schuklat sahen einander erschrocken an. Hinter ihnen lief immer noch das Band. Ding um Ding tauchte ins Licht und versank ohne Schuklats Bedingung wieder im Dunkeln. Hanno hob den Stab vom Boden auf und reichte ihn Schuklat. Aber Schuklat schüttelte den Kopf. »Genug für heute«, sagte er. Er packte seine Tasche und schob das gestreifte Mädchen dahin, wo das Tor war.

Draußen läuteten die Kirchglocken, der Himmel war immer noch dunkelblau. Schuklat stieg sofort auf unsichtbaren Stufen die Luft hoch. Das Mädchen sah sich fragend nach Hanno um. »Komm«, sagte Hanno, nahm das Mädchen bei der Hand und stieg Schuklat hinterher. »Aber«, sagte das Mädchen, doch es lief ohne zu zögern an Hannos Seite und sank kein einziges Mal ein. Plötzlich sah Hanno, wie der rote Kinderzimmerboden über die Kuppel des Parlamentsgebäudes flog und in einer Straßenschlucht verschwand.

»Herr Schuklat!«, rief Hanno, »mein Boden!«

Schuklat drehte sich um. »Auch ein Boden mag es nicht, wenn man ihn dauernd belastet«, sagte Schuklat. »Lassen Sie ihn, Herr Hanno. Vielleicht kommt er zurück, wenn er sich abgeregt hat.«

Hanno dachte an Marie. Wie kam sie jetzt an den Computer heran, wo doch der Schreibtisch in der Luft stand? Ich sollte endlich nach Hause, dachte Hanno, und in diesem Moment blieb Schuklat ruckartig stehen und stieß mit der Hand eine Türe auf. Hanno hatte nicht genau gesehen, ob die Türe aus Luft war, aber der Raum, den sie alle drei betraten, hatte richtige, gelbgestrichene Wände. Er schwankte überhaupt nicht, obwohl sie sich mindestens hundert Meter über dem Stadtpark befanden. «Wo sind wir hier?«, fragte Hanno.

»Im Nirgends«, antwortete Schuklat. »Im besten Luftlokal der Stadt. Setzt euch.«

Obwohl es keine Stühle und Bänke gab, senkte Hanno wie Schuklat sein Hinterteil und spürte, dass er sehr bequem saß. Ein Kellner eilte herbei, Schuklat bestellte ein Bier, Hanno eine Cola und das Mädchen ein Glas Gletschermilch. Es hatte immer noch den Hut auf. Der Kellner schrieb die Bestellung in die Luft und kam umgehend wieder und streckte jedem sein Glas entgegen. Das Bier, die Cola und die Gletschermilch sahen alle gleich aus: türkisblau mit einer kleinen Schaumkrone.

Hanno hörte wieder die flüsternde Stimme an seinem Ohr:

Im Nirgends,

im Nirgends

ist das Ende

des Ends.

Niemand war zu sehen, nicht mal der Kellner.

»Warum hat der Kellner allen das Gleiche gebracht?«, fragte Hanno.

»Im Nirgends ist alles gleich«, sagte Schuklat. »Vielleicht gelingt es Ihnen, Herr Hanno, das daraus zu machen, was Sie sich vorstellen.«

Hanno nippte an der blauen Flüssigkeit. Sie schmeckte tatsächlich wie Cola. Er trank sie in einem Zug aus. Das gestreifte Mädchen hingegen spuckte die Gletschermilch aus. »Die schmeckt bei uns ganz anders«, sagte es.

Hanno fand das ziemlich unhöflich. »Wie heißt du überhaupt?«, fragte er.

»Kindin«, sagte das Mädchen.

Hanno lachte.

»Ein seltener Name«, sagte Schuklat.

»Der kommt davon, dass mein Vater und meine Mutter sich stritten«, sagte das Mädchen. »Sie konnten sich einfach nicht auf einen Namen einigen. Darum bin ich die Kindin: ein weibliches Kind. Sie streiten sich übrigens immer noch. Aber wegen anderen Sachen.«

Kindin nahm den Hut vom Kopf.

»Sagen Sie mal, Miss Kindin«, sagte Schuklat. »Wie schmeckt denn die Gletschermilch dort, wo Sie herkommen?«

»Sie schmeckt ganz leicht salzig und ein bisschen nach Pinguinbaby. Sehr erfrischend.«

»Gletscher und Pinguine gibt es in Feuerland«, wenn ich mich nicht irre«, sagte Schuklat.

»Stimmt«, sagte Kindin, »da komm ich her. Aus Fabul, um genau zu sein.«

Hanno erschrak ein bisschen ob so viel Zufall. Eben noch hatte er zu Hause die Karte von Feuerland auf dem Bildschirm studiert, und schon saß er neben einer Feuerländerin. Wie war die denn auf das Förderband geraten?

»Wie sind Sie denn auf das Förderband geraten, Miss Kindin?«, fragte Schuklat. Hanno sah mit Erstaunen, dass Schuklats Gesicht sich verändert hatte. Der Teig hatte eine Form erhalten, zwei Augen waren zum Vorschein gekommen.

»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Kindin. »Ich weiß noch, dass ich mit Vater und Mutter auf der Veranda gesessen habe und der Diener uns eine Gletschermilch gebracht hat. Dann hat Vater erklärt, wir seien ab sofort nicht mehr reich. Er habe seine Firma schließen müssen. Wörtlich sagte er: Wir haben unsere Existenz verloren.«

»Und dann?«, sagten Hanno und Schuklat gleichzeitig.

»Dann saß ich plötzlich auf diesem Band, zwischen irgendwelchen Gegenständen, und sauste erst durchs Dunkle, und dann ins Helle, und dann hat mich jemand heruntergerissen.«

»Das war ich«, sagte Schuklat. »Entschuldigen Sie, Miss Kindin, wenn es etwas unsanft war.«

Kindin nickte huldvoll.

Hanno wusste nicht, ob er ihr glauben sollte.

»Was hatte denn dein Vater für eine Firma?«, fragte er.

»Zwischenräume Export-Import«, sagte Kindin. »Er war der reichste Mann in Feuerland.«

»Zwischenräume?«

»Richtig.«

»Er hat mit Zwischenräumen gehandelt?«

»Richtig.«

»Wer braucht denn Zwischenräume?«

»Sie, Herr Hanno«, sagte Schuklat, »wenn Sie nicht wollen, dass Ihre Schuhe oder Schulhefte aneinanderkleben.«

»Ich habe nicht gewusst, dass man Zwischenräume kaufen muss«, sagte Hanno.

»Normale Zwischenräume sind meistens gratis«, sagte Kindin. »Aber es gibt Leute, die etwas Spezielles wollen, zum Beispiel extra weiche Zwischenräume für die Klaviertasten oder afrikanische Zwischenräume für schwedische Möbel oder garantiert stumme Zwischenräume für Zoogehege.«

»Gibt es denn Zwischenräume, die man hören kann?«, fragte Hanno.

»Richtig«, sagte Kindin.

Wieder nickte sie huldvoll.

»Su historia es muy interesante«, sagte Schuklat und hob sein Glas.

»Soll das etwas heißen?«, fragte Kindin.

»Ihre Geschichte ist sehr interessant. Sie sprechen nicht spanisch?«

»Nein«, sagte Kindin, »ich spreche wie meine Mutter. Mein Vater hat mir verboten, spanisch zu lernen. Er sagte, es schadet der Verdauung.«

»Dann ist deine Mutter nicht aus Feuerland?«, fragte Hanno.

»Nein«, sagte Kindin. »Meine Mutter ist aus der Schweiz. Sie ist sehr vornehm, von königlicher Abstammung.«

»Ich glaube nicht, dass es in der Schweiz jemals Könige gab«, sagte Hanno.

»Sie ist so vornehm, dass sie Brot nur mit Gabel und Messer essen kann, sonst wird ihr schlecht.«

Nun war es eine Weile ruhig am Tisch. Das heißt, ein Tisch war gar nicht da, die Gläser standen in der Luft. Kindin leerte ihr Glas aus, die blaue Flüssigkeit verschwand spurlos.

Hanno fiel ein, dass er für den Vortrag in der Schule nur noch zwei Tage Zeit hatte. Er hatte noch nichts bereit, außer dem Thema: Feuerland. »Ich muss nach Hause«, sagte er.

»Ja, gehen wir«, sagte Schuklat, »die Dächer warten auf mich.«

Kapitel 5
Die Ent-deckung des Parlaments

Die Kirchenglocken läuteten sechs Uhr. Hanno hätte wetten können, dass sie schon vor einer Stunde sechs Uhr geläutet hatten.

»Wohin gehen wir?«, fragte Kindin.

»Ich gehe nach Hause«, sagte Hanno.

»Ich gehe aufs Parlament«, sagte Schuklat.

»Und ich?«, sagte Kindin.

Sie blieben alle drei stehen. Unter ihnen rauschte die S-Bahn.

»Sie rufen am besten mal zu Hause an«, sagte Schuklat.

»Das habe ich bereits gemacht«, antwortete Kindin.

»Du hast ja gar kein Telefon«, sagte Hanno. »Du hast ja gar nichts. «

»Mein Telefon ist im Nasenbein implantiert«, sagte Kindin. »Das macht man so bei Kindern in Feuerland.«

»Warum?«, fragte Hanno.

»Weil es wichtig ist, dass sie stets die Hände frei haben bei allfälligen Angriffen, zum Beispiel von Seewölfen.«

Soviel Hanno wusste, waren Seewölfe so etwas wie Robben und lebten im Wasser. Und dass sie an Land kamen, um Kinder anzugreifen, erschien ihm fragwürdig. Aber er fragte nicht.

»Und was meinten Ihre Eltern am Telefon, Miss Kindin?«, sagte Schuklat.

»Die Hausdame war am Telefon. Meine Eltern seien verschwunden«, sagte sie.

»Ach«, sagte Schuklat, und dann steuerte er geradewegs auf die Kuppel des Parlamentsgebäudes zu. Auf den Ziegeln am Fuß der Kuppel saßen ein paar Tauben und begrüßten Schuklat schon von weitem.

»Frau Schnulp, Frau Kloth, Frau Galunter – schön, Sie zu sehen«, sagte Schuklat.

»Bei uns haben die Vögel keine Namen«, sagte Kindin und setzte sich zu den Tauben. »Sie erinnern mich ein bisschen an unsere Kochmöwen.«

Sie hatte tatsächlich Kochmöwen gesagt. Hanno hatte noch nie gehört, dass man Möwen aß. Was für ein seltsames Mädchen. Während Schuklat anfing, Ziegel zu lösen und wegzuwerfen, ging Hanno der Dachrinne entlang auf die andere Seite der Kuppel, um endlich ungestört und in weitem Bogen in die Luft zu pissen. Er wollte gerade den Reißverschluss aufmachen, da hörte er Schritte hinter sich. Das war Kindin. »Ich muss mal ganz dringend«, sagte sie, »wo kann ich das?«

»Wir steigen in die Kuppel«, sagte Hanno, »komm.«

»Herr Schuhkalt«, rief Kindin, »wir steigen in die Kuppel!«

Schuklat sah nicht auf.

»Stör ihn nicht«, sagte Hanno, »und übrigens heißt er Schuklat.«

Es gelang ihm, das leicht verklemmte Türchen in der Kuppel aufzuziehen. Ein dumpfer Geruch kam ihnen entgegen. Hanno machte sich klein und zwängte sich hinein. Kindin nahm ihren Hut vom Kopf und folgte.

»Da unten regieren sie«, sagte Hanno andächtig.

Über eine steile Wendeltreppe stiegen sie in die Tiefe und gelangten auf eine mit Marmor eingefasste Balustrade. Von da blickten sie hinab in eine große, von Kronleuchtern erhellte Halle. Es war sehr still. Kindin schwang sich auf das dunkel polierte Treppengeländer und sauste zwei Stockwerke nach unten. Hanno tat es ihr nach. Kein Mensch war zu sehen. Kindin verschwand bei Damen und Hanno bei Herren. Kaum saß Hanno auf der Toilette, hörte er Stimmen. Zwei Männer kamen herein und redeten. Oder waren es drei? Hanno hörte nur zwei Wasserspülungen. Aufgeregt hörte er zu. Es war eine eigentliche Versammlung, welche die Männer hier abhielten. Als sie endlich die Tür hinter sich zugeschlagen hatten, schlich sich Hanno hinaus und flitzte die Treppe hoch zur Kuppel. Kindin saß wartend auf der Wendeltreppe.

»Dauert das bei dir immer so lange?«, fragte sie. »Bei uns in Feuerland fließt alles viel schneller als hier, weil wir sehr nahe am Südpol sind.«

»Komm«, sagte Hanno keuchend. »Schuklat muss helfen. Da unten stimmt etwas nicht.«

Schuklat hatte bereits die ganze Ostseite des Daches von den Ziegeln befreit. Sein Gesicht war wieder so geschwollen, dass die Augen kaum mehr sichtbar waren. Er saß zwischen den Tauben und aß ein belegtes Brot. Er holte auch für Hanno und für Kindin eins aus der Mappe. Diese Mappe schien sich mit Broten neu gefüllt zu haben. Aber Hanno hatte keine Zeit, darüber zu staunen. »Wir waren ...«, sagte er, als Kindin ihm ins Wort fiel: »... auf der Toilette. Was beweist, dass hier alles wahr ist und wir nicht in einem Film sind, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Nein, ich weiß es nicht, das muss ich zu meiner Schande gestehen«, sagte Schuklat.

»In einem Film müssen die Helden nie auf die Toilette. Sie sind auch immer gut frisiert.«

Schuklat lachte, hob die Mütze und fuhr sich mit den Fingern durch sein strähniges fettiges Haar. »Schöne Helden sind wir, nicht wahr, Frau Schnulp?« Frau Schnulp pickte Brot aus Schuklats Hand.

»Wir waren«, setzte Hanno wieder an, »auf der Toilette. Und da habe ich hinter der Tür gehört, was im Parlament geplant wird. Sie wollen den Präsidenten stürzen!«

Schuklat setzte sich ruckartig gerade hin. Frau Schnulp, Frau Kloth und Frau Galunter flatterten weg. Schuklat bat Hanno, möglichst genau zu wiederholen, was die Männer gesagt hatten.

Das fiel Hanno nicht schwer: »Morgen bei der Wahl bekommt der Präsident kein einziges Ja, haben sie gesagt. Der Computer ist so programmiert, dass er lauter Nein-Stimmen aufzeichnet, wenn die Abstimmungstasten gedrückt werden. Dann wird der schwarze King zur Wahl vorgeschlagen. Für ihn zeichnet der Computer lauter Ja-Stimmen auf. Und damit kann innert Kürze die Punktekarte eingeführt werden.«

»Hat man Sie gesehen, Herr Hanno?« fragte Schuklat.

»Nein«, sagte Hanno. »Wer ist der schwarze King, und was ist die Punktekarte?«

»Ich werds Ihnen gleich erklären. Vielleicht werden wir doch noch Helden.«

Kapitel 6
An der Marderkonferenz

»Der schwarze King«, sagte Schuklat, »will seit Jahren Präsident werden. Neuerdings will er im Staat mit einer Punktekarte Ordnung schaffen: Jeder Mensch soll so eine Karte erhalten. Ist der Mensch männlich, hat er zehn Punkte auf seiner Karte. Eine Frau hat acht Punkte. Ein Junge sechs. Ein Mädchen vier. Ein Ausländer null. Pro dreißig Tage Krankenhaus wird ein Punkt abgezogen. Pro dreißig Tage Gefängnis ebenso. Ferner wird ab siebzig Lebensjahren pro Jahr ein Punkt von der Karte abgezogen. Die Karte wird jährlich aktualisiert.«

»Ja, und?«, fragte Hanno, »wozu soll die Karte gut sein?«

Schuklat seufzte. »Die Punkte zählen bei Volksabstimmungen. Die Männerstimmen zum Beispiel werden mal zehn gerechnet. Die Frauen nur mal acht. Die Stimme eines Achtzigjährigen zählt gar nicht mehr.«

»Aber was sollen Kinder mit der doofen Karte? «fragte Hanno. »Die dürfen ja gar nicht abstimmen.«

»Die Karte wird auch verwendet bei allem, was gezahlt werden muss: Steuern, Schulgelder, Esswaren und so weiter. Ein Mensch mit einer Zehnerkarte zahlt zehn Prozent weniger, einer mit einer Zweierkarte nur zwei Prozent weniger.«

»Ich von Feuerland bin also gar nichts wert«, sagte Kindin, »null Punkte auf meiner Karte.«

»Ja, Miss Kindin, was dieser schwarze King einführen will, ist furchtbar. Mit seiner Karte schafft er verschiedene Menschenstufen. Die Muskelstärksten sind auf der obersten Stufe. Je schwächer, ärmer und geplagter, desto tiefer. «

Für eine Weile war es still auf dem Dach. Dann sagte Schuklat »Ich hab mir schon gedacht, dass da unten etwas Übles im Tun ist. Noch selten ist mir beim Ent-decken so ein dicker Giftschwaden in die Nase gestiegen. Das sind die miesen Machenschaften des schwarzen King und seiner Leute. Wir müssen rasch handeln.«

»Und wie?«, fragte Hanno.

»Heute ist Marderkonferenz«, sagte Schuklat, »da gehen wir hin.«

Und schon lief er los, ohne sich nach Hanno oder Kindin umzusehen. Hanno gab Kindin die Hand, als sie von Dach aus die Luft betraten. Unten heulte eine Polizeisirene, Hanno merkte, wie Kindin zusammenzuckte. Obwohl sie diesmal zu einer anderen Stadtseite liefen, sah Hanno wieder den grünen Koffer. Wieder rüttelte er daran, wieder ließ sich der Koffer nicht heben. Von weitem sah Hanno, wie Schuklat durch ein Dachfenster in ein unscheinbares Haus stieg. Irgendwie war das Laufen auf der Luft plötzlich mühsamer, es war wie Laufen in tiefem Schnee. Als Hanno und Kindin endlich das Dachfenster erreichten, wo Schuklat verschwunden war, schlug die Uhr wieder sechs. Im Halbdunkeln lag ein großer Dachboden, der leer war bis auf etwa dreißig Marder. Einer stand auf den Hinterbeinen auf einer Kiste. Aus einer Ecke winkte Schuklat Hanno zu sich. Frau Schnulp saß auf Schuklats Schulter. »Frau Schnulp übersetzt«, flüsterte Schuklat.

»Was sind das für Tiere?«, flüsterte Kindin.

»Marder«, flüsterte Hanno zurück.

»Mörder?«, flüsterte sie.

»Ruhe«, flüsterte Schuklat.

Der Marder auf der Kiste gab so etwas wie ein Fauchen von sich, und unter den zuhörenden Mardern entstand Unruhe. Sie schlugen mit den Schwänzen auf den Boden, was etwas Empörtes hatte. Dann begann er zu sprechen, kaum hörbar, aber stetig. Frau Schnulp übersetzte das Mardisch auf Taubisch und Schuklat hörte ihr aufmerksam zu. Als der Marder geendet hatte, stieg er von der Kiste und begann sich zu putzen. Die anderen Marder redeten in kleinen Gruppen aufeinander ein. »Sie diskutieren«, sagte Schuklat. »Seit die Tauben ihre philosophischen Versammlungen abhalten, machen es die Marder ihnen nach. Heute geht es um die große Lügnerfrage. Der Redner hat zu Beginn gesagt: Alle Marder sind Lügner. Darum die Empörung im Publikum. Aber dann wurde die Kniffligkeit dieser Behauptung rasch klar. Wenn es ein Marder ist, der sagt: Alle Marder sind Lügner – und die Behauptung ist wahr, was dann? Dann lügt der Marder selber auch, und das heißt: seine Behauptung ist nicht wahr, es stimmt nicht, dass alle Marder Lügner sind. Wenn aber die Behauptung gelogen ist, dann ... «

»Von so was bekomm ich leicht Kopfschmerzen«, sagte Kindin.

Die Marder sahen sehr pfiffig aus. Hanno wunderte sich nicht, dass sie so schwierige Probleme knackten.

»Könnten Sie den Redner mal in unsere Ecke holen, Herr Hanno?«, bat Schuklat. Hanno wusste nicht, wie er das anstellen sollte, ohne den Marder zu erschrecken. Wenn der dann zubiss?

»Frau Schnulp sagt, Sie sollen einfach uukhr sagen.«

»Ich mach das«, sagte Kindin und ging los. Und der Marder hörte tatsächlich auf, sich zu putzen und kam sofort in Schuklats Ecke.

»Sagen Sie ihm«, sagte Schuklat zu Frau Schnulp, »dass uns seine Rede sehr gefallen hat, und dass wir ihn um Hilfe bitten. Unser Problem heißt: Alle Politiker lügen, sagt ein Politiker.«

Frau Schnulp gurrte und der Marder nickte.

Und dann erzählte Schuklat alles vom schwarzen King und der geplanten Punktekarte. Dass Kings Leute morgen den Präsidenten stürzen wollten, und wie sie dazu den Abstimmungscomputer manipuliert hatten. »Alle Politiker werden lügen«, sagte Schuklat, »weil der Computer zweimal etwas anderes sagt, als sie meinen.«

Frau Schnulp gurrte wieder, und der Marder nickte wieder.

»Er ist niedlich«, flüsterte Kindin. »Ich möchte ihn auf den Arm nehmen.«

»Ja nicht«, flüsterte Hanno. »Er wäre bestimmt beleidigt.«

»Frau Schnulp sagt, er heiße Martes«, sagte Schuklat und neigte sich dem Marder kurz zu. »Sehr erfreut, Mister Martes. Mein Name ist Schuklat.«

Martes nickte und ging zu den versammelten Mardern zurück. Er stieg sofort auf die Kiste und fing wieder an zu sprechen. Frau Schnulp gurrte wie wild in Schuklats Ohr. Martes schien etwas zu fragen. Die Marder schienen zu antworten, es klang wie ihkrugukr, dann rannten sie alle hinter Martes her und verschwanden durch ein Loch in der Wand.

»Ist etwas passiert?«, fragte Kindin. »Ist jemand hinter den Mördern her?«

»Marder, nicht Mörder«, sagte Hanno, »sonst nenn ich dich Kundin, nicht Kindin.«

»Martes und die Marder sind auf dem Weg ins Parlament«, sagte Schuklat. »Sie werden dort sämtliche Kabel durchbeißen, so dass morgen an der Parlamentsversammlung die Abstimmungscomputer ausfallen.«

Hanno staunte. »Was haben denn die Tiere davon, wenn der schwarze King mit seiner Punktekarte nicht an die Macht kommt?«

»Das ist ganz einfach«, sagte Schuklat. »In einem Staat, wo nicht mal alle Menschen gleiche Rechte haben, da gelten die Tiere überhaupt nichts.«

Hanno nickte, das leuchtete ein. Er musste sofort an Mia, seine Katze, denken. Eigentlich war es nicht seine, sondern Maries Katze. Aber sie schlief auf seinem Bett und spielte mit seinem Radiergummi und kletterte an seinem Vorhang hoch. Sie machte, was sie wollte. Sie war eine wichtige Person in der Familie. Hanno spürte wieder das schlechte Gewissen. Ich sollte endlich nach Hause, dachte er, aber erst sollte ihm Schuklat noch die große Lügnerfrage erklären. Und bevor Hanno fragte, fing Schuklat schon damit an.

»Stellt euch vor, im Parlament steht ein Politiker auf und sagt: Alle Politiker lügen!«, lachte Schuklat. »Könnt ihr euch das empörte Geschrei vorstellen? Wie? Was? Wir sollen alle lügen? Wir lügen doch nie! «

»Aber«, sagte Kindin, »wenn der Politiker mit dieser Aussage die Wahrheit sagt, dann lügt er selber auch, weil er selber auch ein Politiker ist. Also, was gilt dann? Ist das, was er sagt, Wahrheit oder Lüge?«

»Ich bin sehr beeindruckt von Ihrem Scharfsinn, Miss Kindin«, sagt Schuklat.

Hanno spürte einen Schuss Neid. Er hatte der seltsamen Kindin, die dauernd zu flunkern schien, nicht so viel Denkvermögen zugetraut.

»Nun«, sagte Schuklat, »ich hoffe, die Marder sind erfolgreich. Dann haben wir alle miteinander einen Präsidentenputsch verhindert, Frau Schnulp inbegriffen. Und jetzt muss ich wieder aufs Dach, die Ziegel rufen.«

Kapitel 7
Sturz ins Stadion

Auf dem Dach des Parlamentsgebäudes vergaß Hanno, dass er eigentlich hatte nach Hause gehen wollen. Zu dritt warfen sie die Ziegel vom Dach, das heißt, Hanno und Kindin versuchten, einander die Ziegel anzuwerfen. Aber immer kurz bevor sie trafen, schwenkten die Ziegel ab und flogen in einem schönen weiten Bogen übers Dach hinaus. Kindin hatte Schuklat gar nicht gefragt, warum sie das machten. Sie griff einfach zu und warf und warf. Während Schuklats Gesicht wieder weißer und dicker wurde, lief das von Kindin rot an. Den Hut hatte sie abgenommen. Frau Schnulp hatte sich draufgesetzt, damit der Wind ihn nicht wegwehte. Leider kam kein Wind. Es war heiß, obwohl es Abend war. Hanno zählte nicht mehr mit, wenn die Glocken schlugen. Er fragte sich, ob die Marder da unten in den Regierungsräumen schon am Werk waren. Einmal hatte sich Hannos Vater aufgeregt, weil ein Marder in seinem Auto irgendetwas durchgebissen hatte. Das Auto ließ sich nicht mehr starten, und Vater kam zu spät zur Arbeit. Damals hatte sich Hanno unter einem Marder ein hässliches kleines Zahnmonster vorgestellt. Seit heute wusste er, wie hübsch sie waren. Kein Wunder, hätte Kindin Herrn Martes am liebsten auf den Arm genommen. Hanno fragte sich, ob das immer so war, dass die Vorstellung nicht zur Wirklichkeit passte. Irgendwie war das mühsam, wenn man die Bilder im Kopf dauernd ändern musste.

Statt dass bleibt, was ist,

kommt frischer Mist.

Die Stimme hatte wieder gesprochen. Diesmal schien sie auch noch zu kichern. Wieder war niemand zu sehen, der zu dieser Stimme passte. Kindin hatte sich flach aufs Dach gelegt und schien zu ruhen. Hanno tat es ihr nach und schloss die Augen. Als er spürte, dass der Marder über seinen Bauch lief, wusste er nicht, ob er träumte. Verwirrt setzte er sich auf. Nein, kein Traum, alles so wie vorher: das Dach, der dunkelblaue Himmel, das gestreifte Mädchen. Und dort bei der Kuppel Schuklat, Frau Schnulp und der Marder Martes, die leise redeten. Plötzlich klatschte Schuklat in die Hände. Das hieß wohl: Herr Martes und seine Leute hatten erfolgreich genagt.

Hanno sah, wie Schuklat aufstand, seine Mappe packte und ohne sich umzusehen zielstrebig übers Dach ging. Martes lief mit. Frau Schnulp flog weg.

»Halt!«, rief Hanno, »wohin gehen Sie?«

Schuklat hielt nicht an.

Hanno schüttelte Kindin. »Komm schnell«, sagte er, »den anderen nach.« Er getraute sich nicht mehr, ohne Schuklat die Luft zu betreten. Hanno und Kindin rannten und holten Schuklat ein, gerade als er über die Dachrinne sprang.

»Wohin gehen Sie?«, rief Hanno wieder.

»Wir wollen feiern«, rief Schuklat zurück.

Hundert Meter über dem Stadtpark schien Schuklat mit der Hand wieder eine Türe aufstoßen zu wollen. Es gelang ihm nicht. Er schlug ein paarmal mit den Schuhen dagegen, erst mit dem rechten dunkelgelben, dann mit dem linken schwarzen.

»Das Nirgends ist geschlossen«, sagte Schuklat. »Kommt.«

Sie liefen auf die andere Seite der Stadt, es war ein weiter Weg, aber ein leichter Wind war aufgekommen, der tat gut. Unten ihnen rauschte noch immer der Verkehr, noch immer war Stoßzeit, alle wollten von der Arbeit nach Hause. Hanno dachte an Vater, ob er auch da unten steckte oder schon daheim am Tisch saß?

Über dem Fußballstadion blieb Schuklat endlich stehen, schob mit beiden Händen so etwas wie einen Vorhang auseinander und verschwand. Hanno, Kindin und Martes drängten nach.

»Willkommen im Überall«, sagte eine uralte Kellnerin. »Haben Sie reserviert?«

»Nein«, sagte Schuklat.

»Dann will ich mal sehen, was ich für Sie tun kann«, sagte die Kellnerin und blickte in ein Notizheft. »Lacher oder Nichtlacher?«

»Egal«, sagte Schuklat.

»Tisch fünf ist noch frei, Nichtlacher, wenn ich bitten darf«, sagte die Kellnerin.

Sie schlurfte sehr langsam voraus. Hanno hatte Mühe, seine Füße zu drosseln. Von beiden Seiten war Gelächter zu hören, aber kein Mund zu sehen, aus dem es kam. Zuerst ließ sich Kindin anstecken, ihr Lachen sprang immer wieder auf wie ein Gummiball, dann lachte Schuklat, hoch und meckernd, dann Martes, khirrrrihg, khirrrihg. Als Hanno endlich losprustete, drehte sich die Kellnerin um und sagte »Ruhe bitte«. Dass hieß wohl, dass sie jetzt das Nichtlacherabteil erreicht hatten. Aber Hanno konnte mit Lachen nicht aufhören, er tat so, als ob er huste.

»Was gibt es denn heute Gutes?«, fragte Schuklat.

»Rosa können Sie noch haben«, sagte die Kellnerin. »Schwarz ist ausverkauft.«

»Dann vier mal Rosa«, sagte Schuklat, als plötzlich Frau Schnulp noch angeflattert kam. »Und eine Portion getrocknete Luft.«

Auch hier im Überall setzte man sich einfach, indem man das Hinterteil ein bisschen senkte. Hanno wusste nicht, warum er viel tiefer saß als die anderen. Kindin blickte auf ihn herunter. Das störte ihn sehr.

Es roch sehr gut im Überall, Hanno spürte seinen Hunger. Er machte sich darauf gefasst, lange auf das Essen warten zu müssen, wo doch die alte Kellnerin so langsam schlurfte. Aber das Essen kam von oben, die Teller sanken auf Brusthöhe herab. Hanno sah, wie Schuklat mit den Fingern zu essen anfing und tat es ihm nach. Alles auf dem Teller war rosa, aber verschiedenförmig, und schmeckte nach Himbeer, Crevetten, Wurst und Kaugummi. Wonach wohl das Menü Schwarz geschmeckt hatte?

Als der Teller leer war, schwebte er nach oben und verschwand.

Martes rülpste laut.

Kindin lachte, aber hielt sich rasch die Hand vor den Mund. Sie saßen ja im Nichtlacherabteil.

»Auf die Gerechtigkeit«, sagte Schuklat. »Auf die Menschenwürde. Auf die Tierwürde. Auf Herrn Martes .«

Martes merkte, dass von ihm gesprochen wurde. Er schubste Frau Schnulp, die auf Schuklats Schulter eingenickt war, damit sie übersetze. Frau Schnulp sagte etwas auf Mardisch, und Martes schien zufrieden.

»Herr Schuklat«, sagte Kindin, »wie sind Sie eigentlich Dachentdecker geworden?«

»Ich werde Ihnen gerne einmal aus meinem Leben erzählen, Miss Kindin«, sagte Schuklat, »aber lieber ein ander Mal, wenn man lachen darf.«

In diesem Moment stand Martes auf, hob seinen buschigen Schwanz und begann, Zentimeter um Zentimeter eine wunderschön rosarote dünne Kackwurst aus seinem Darm zu entlassen.

Das sah so komisch aus, dass Hanno lachen musste, und je länger die Wurst wurde, desto heftiger wurde sein Lachen. Das Lachen spritzte ungebremst heraus. Da spürte Hanno, wie er sank, er sank wie ein Ertrinkender, er riss die Arme hoch und lachte immer noch. Schuklat, Kindin und Martes verschwanden aus seinem Blickfeld. Das letzte, was er sah, war das fallende rosa Würstchen. Dann fiel er selber in die Tiefe.

… und so weiter. Nach dem 15. Kapitel ist Schluss.