26. Dezember 2024
Was soll der letzte Eintrag sein in diesem Jahr? Wie immer darf er nicht kürzer sein als 500 Zeichen und nicht länger als 1000 Zeichen. Trauriges mag ich nicht schreiben, und Lustiges fällt mir nicht ein. Woran will ich mich denn irgendwann erinnern? An die kleine Schachtel gleich neben mir im Bücherregal, Format A4, drin die schlafende Katz Moritz, sich selbst umarmend, Kopf im warmen Bauch, eng zusammengerollt – wie ein guter Gedanke, der sich zur richtigen Zeit entfalten und die Glieder strecken wird.
25. Dezember 2024
Das kommende Jahr verspricht wenig Gutes für den blauen Planeten. Unser Neujahrsgruß ist darum nicht allzu munter: »Berghänge rutschen nach unten – Regierungen rutschen nach rechts. Fluten und Meere steigen – Rücksicht und Hemmungen fallen. Tropische Wälder schrumpfen – Diktatoren blasen sich auf. Artificials rücken vor – Humanisten ziehen ab. Gutes geht unter – Ungutes taucht auf. So viel Erzittern. So viel Bewegung. Doch das bleibt konstant: alle zwölf Monate ein Jahreszahlwechsel. Fröhliches 2025!«
8. Dezember 2024
Juni 2012: Ein rasender Wind jagt Sand und Dreck und Plastiksäcke durch die Gassen der Stadt Mardin. Wir retten uns ins Hotel und blicken durchs Fenster hinaus in die flache, braungelbe Ferne – vom türkischen ins syrische Mesopotamien. Der Kellner kommt mit Tee und betrübter Miene. Er hat gerade erfahren, dass über Syrien ein türkischer Kampfjet abgeschossen worden ist, nun soll die Grenze geschlossen werden. Und seine syrische Freundin ist auf der anderen Seite. Oh je. Was wird nun aus der Liebe? Syrien zwölf Jahre später: 500´000 Menschen sind im Krieg gestorben, 6.8 Millionen Menschen sind ins Ausland geflohen. Von den Verbliebenen leben 90 Prozent in Armut. Heute haben die Rebellen der islamistischen Miliz (HTS) den Präsidenten aus dem Land gejagt: Baschar al-Assad – Tyrann-Despot-Gewaltherrscher.
5. Dezember 2024
Drei jungen Männern zugehört: »Wie kann man Solidarität erreichen?« »Vielen Leuten geht es Scheiße, weil die Welt grad so abgefuckt ist.« »Wie lange braucht die Gesellschaft, um sich zu ändern? « »Das braucht Zeit, haben wir die?« »Das kann auch schlagartig gehen, denk an die Französische Revolution.« »Ja, aber danach kam doch so ein Dude und riss die ganze Macht an sich und brachte alle um, wie hieß der schon wieder?« »Man müsste ohne gewaltsamen Umsturz eine soziale Transformation hinlegen.« »Scary times.« »Ich glaube, in unserer Generation könnte es krachen.« »Es braut sich was zusammen.«
Wie recht sie haben, die drei.
4. Dezember 2024
Am 4. Dezember 1858 wurde im Tessin die pena di berlina abgeschafft, entnehme ich der Zeitschrift Il Malcantone. La pena di berlina, die Berliner Strafe? Was bitte war denn das? La Berlina, so habe ich nachgelesen, war eine Form des Prangers: Der Verurteilte wurde auf einem Podest angekettet und öffentlich zur Schau gestellt. Diese mittelalterliche Tortur war nicht etwa eine Berliner Erfindung. Das Wort soll sich aus dem althochdeutschen »Bretilin« (kleines Brett) ins alte italienische »Berlengo« (Tisch) und von da in »Berlina« verwandelt haben. Nun ja, auch Wörter erleiden Torturen. Heute braucht man für einen Pranger keine Bretter mehr. Man errichtet ihn mit einem Klick auf Social Media. So einfach wird jemand weltweit und blitzschnell zur Schau gestellt und ebenso blitzschnell erledigt.
2. Dezember 2024
»Was hast du mit deinem Auge gemacht?«, fragt mein Enkel, als ich aus dem Schlafzimmer komme, »es ist blau.« »Ja und«, sag ich, »ich hab nun mal blaue Augen.« Dann sehe ich im Spiegel, dass ich ausschau wie nach einem Boxkampf: Blau bis dunkelviolett ist das linke Auge umrandet, von der Nasenwurzel übers Lid bis hoch zur Braue. Ich hatte doch gar keine Schlägerei heut Nacht, nicht mal im Traum. Wer war der boxende Bösewicht? Es kann nur Virus Covid gewesen sein. Hat sich endlich, nach ein paar Tagen in meinem Bett, davongemacht und mir zum Abschied noch eine Faust verpasst.
21. November 2024
Kürzlich, als ich zum Bus lief, lag auf einem Mauervorsprung ein goldener Kugelschreiber. Also – um genau zu sein – er lag auch da, wenn ich nicht zum Bus gelaufen wäre. Aber ich lief nun mal, und da sah ich ihn und griff danach. Woher kommt bloß dieser Drang, etwas ganz Besonderes zu finden? Nein, er war nicht aus Gold, nein, er war nichts Besonderes, er hatte einen Aufdruck, der nicht mehr ganz leserlich war: »Metzgerei Schro«. Und doch werde ich nicht aufhören können, mich nach etwas bücken, das sich zu bücken nicht lohnt.
16. November 2024
Im British Museum in London, Samstagnachmittag. Die Ausstellung zum ägyptischen Totenkult, erster Stock, Raum 62 und 63, ist übervoll mit sehr lebendigen Menschen. Zwischen den Vitrinen ist fast kein Durchkommen. Plötzlich bricht mir der kalte Schweiß aus, und ich muss umgehend nach draußen flüchten. Vielleicht war es der Mangel an Sauerstoff. Vielleicht war es die Erschütterung über die uralten Toten in den Särgen. Vielleicht war es der Ausruf der deutschen Touristin: »So was von geil, diese Mumien.«
11. November 2024
Es ist nun mal so: Ich bin eine alte Frau. Seltsam ist, dass eine ältere Frau nicht älter ist als eine alte Frau. Mit »ältere Frauen« bezeichnet man Frauen, die jünger sind als alte Frauen. Die Sprache macht oft eigenartige Tänzchen. »Alte Frau«, das stimmt für mich. Und bitte nicht »bejahrte«! Das klingt wie behaarte. Und bitte bitte nicht »betagte«! Es gibt Wörter, die machen mir einfach Unbehagen. Bei »betagt« kann ich nicht anders, als an »umnachtet« zu denken. Aber Leute – mein Licht ist noch an!
6. November 2024
Um 8 Uhr 30 Schweizer Zeit erklärt er sich in Florida für gewählt und bedankt sich. Um 11 Uhr gehen mir die Flüche aus. Ich suche im Internet das Trumpetenkonzert von Telemann und schicke es an meine Familie als kurzzeitige Verdrängungshilfe. Dann gehe ich einkaufen fürs schwarze Leidmahl. Zur Vorspeise falschen Kaviar mit Schwarzbrot. Dann schwarzen Reis mit Tintenfisch. Und zum Abschluss schwarze Truffes. Aber schwarzer Humor hilft nun auch nicht mehr. Ach Amerika, ach Europa, ach Welt. Die Menschheit überschreitet gerade die lang gefürchtete Klimaschwelle von 1,5 Grad Erwärmung. Und der CO2-Gehalt in der Atmosphäre steigt und steigt. Und was sagt der Gewählte? »Drill, Baby, drill!«
20. Oktober 2024
Ich will im Flugzeug was dichten, aber habe zu Hause die Reime vergessen, die liegen noch auf dem Küchentisch, ach je. Der Sitznachbar will wissen, warum ich stöhne. Er hat zwei Reime dabei und will mir einen davon überlassen: Liebe/Diebe oder Dumme/Summe. Ich habe ein bisschen Mühe zu wählen und für meinen Dank angemessene Worte zu finden. Danach lehnt der Sitznachbar den Kopf zufrieden in Schlaflage. Es dauert eine ganze Weile, bis ich die erste Gedichtzeile beisammen habe. Da sind wir schon im Sinkflug.
15. Oktober 2024
An der Rückenlehne einer Bank in den Pimlico Gardens in London gibt es ein kleines Schild mit der Inschrift:
»Our beautiful brave Chloe. 22.02.2011 – 04.02.2022. Always and forever in our hearts. Mum, Dad, James & Ella.« Neben Ella ein Zeichen für ein Hunde- oder Katzenpfötchen.
Ich rechne. Chloe ist 10 Jahre und 347 Tage alt geworden. Was für eine Trauer steckt in diesen wenigen Zeilen. Wie sehr muss die tapfere Chloe geliebt worden sein von Mutter, Vater, Bruder und einer schnurrenden oder wedelnden Ella.
Vor den Pimlico Gardens fließt die Themse, fliesst die Zeit.
14. Oktober 2024
Auf dem Flügel des Flugzeugs Zürich - London lag ein Baumblatt, gelb. Was für eines, das war nicht zu erkennen. Losgeflattert von Esche, Linde, Buche, Ahorn oder einem anderen Herbstbaum in den Wäldern rund um die Piste. Es lag auf dem silbernen Flügel, in dem sich Himmel und Wolken spiegelten. Es lag noch da, wahrscheinlich irgendwie eingeklemmt, als wir über England tiefer sanken und die Winde rüttelten und es dunkler wurde und der Regen sprühte und sich die Klappen öffneten und wir holpernd aufsetzten. The leaf did not leave .
7. Oktober 2024
Die Outdoor-Industrie bringt eine E-Wanderhose auf den Markt, also eine Hose mit eingebautem Exoskelett und Elektromotor. Darin lassen sich Berggipfel rascher erklimmen. Der Testwanderer brauchte für die Strecke Chamonix-Mont Blanc und zurück nicht mal ganz fünf Stunden. Die E-Hose – zurzeit ausverkauft – kostet 5000 US Dollars und kann vorbestellt werden. Vielleicht müsste die eidgenössische Altersvorsorge mal überdenken, ob sich die Überalterung der Bevölkerung regulieren ließe durch die Abgabe einer E-Hose, in der man schneller in den Himmel kommt.
15. September 2024
Jetzt holen die Deutschlehrer die Herbstgedichte hervor, kleine Oden und Kleinode. Da wird gerilkt und getraklt und genietzscht. Die Rede ist von fruchtender Fülle und Purpurwangen, von der letzten Süße im schweren Wein und der Feier der Natur und dass so das Jahr gewaltig endet. Denn, Herr, es ist Zeit. Ob das die Schüler/innen heute immer noch so verzaubert? Vielleicht machen sie sich andere Reime auf den Herbst. Vielleicht »Babe, es ist Zeit, / dass du die Haare rosa färbst, / denn das ist mega cool im Herbst / bis dass es schneit.«
13. September 2024
Im Einkaufszentrum: Bitte, wo sind die Toiletten? Dort Treppe hoch, dann rechts. Genau, da sind sie, ganz einfach. Aber jetzt wird es kompliziert. Ich muss mich nämlich ziemlich rasch entscheiden. Für »Männer« oder für »Frauen« oder für »All genders welcome«. Und dann gibt es hier noch den »Raum der Stille«. Den schließe ich gleich mal aus. Ich werde ja plätschern müssen. Bei »All genders welcome« dürfte ich rein, weil: als Frau bin ich auch ein gender, und dann wäre ich erst noch welcome. Jetzt mach schon, sagt meine Blase.
12. September 2024
Bei Federer denkt man an Tennis, an Roger. Es gibt noch einen Federer, von dem man sprach, den Heinrich, Schriftsteller und Priester. 1911 erschienen seine Lachweiler Geschichten und wurden vor allem in Deutschland ein Bestseller. Darin ist zum Bespiel die herzzerreißende Erzählung vom Lehrerkind, das einfach nicht lesen lernen will: »Vater und Sohn im Examen«. Weil ich kürzlich aufs Stanserhorn fuhr – zum ersten Mal – ist mir der vergessene Federer wieder in den Sinn gekommen, denn er wurde dort 1902 an der Talstation verhaftet, »wegen unzüchtigen Handlungen, begangen an einem minderjährigen Knaben«. Oben im Berghotel soll er sich mit ihm vergnügt haben. Nach einem teilweisen Freispruch und einsamen schwierigen Jahren ist ihm schreibend ein neues Leben gelungen. Zu recht verhaftet und zu unrecht vergessen? Oder zu unrecht verhaftet und zu recht vergessen? Wer möchte sich anmaßen, darauf zu antworten …
2. September 2024
Im Aussichtsrestaurant auf der Bergspitze: blanker Blauhimmel, darunter blinkende Seen, Hügelketten wie aus Moos und rundum ein Alpenpanorama wie für SVP Werbung. Eifrig wird am Brunch-Buffet zugegriffen, Schweizer Käse, Schweizer Schinken, Schweizer Holunderkonfitüre. Hei, gehtʼs uns allen gut. Wenn wir könnten, würden wir jodeln. Die nette Familie am Nebentisch räumt nett ihr Geschirr weg und nickt nett auf Wiedersehen. Dann schickt die Großmutter den Enkel nochmals zurück: Schieb deinen Stuhl an den Tisch! Oh. Meine Kinder haben so was nie gemusst. Ich habe in meiner Erziehung wohl völlig versagt.
15. August 2024
Die jungen Grünen in Deutschland fordern die Umbenennung von Straßen, die Fontane heißen. Der sei ein Antisemit gewesen. Vor ein paar Jahren habe ich gierig und viel Fontane gelesen. Habe gestaunt, dass mich ein alter Mann aus einem anderen Jahrhundert mit anderem Zeitgeist so packen konnte, und habe ihn bewundert. Wie schön schildert er einen Sommerabend, wie wendig schlüpft er ins Wesen einer Frau, Mathilde Möhring etwa, wie hofft und schuftet und leidet er mit. Ich muss gestehen: Antisemitisches habe ich schlicht überlesen. Marcel Reich-Ranicki, Literaturkritiker und Überlebender des Holocaust, hat die betreffenden Stellen bestimmt gekannt. Trotzdem erklärte er Theodor Fontane zum größten Romancier der Epoche zwischen Goethe und Mann. Vielleicht sollte man vorsichtshalber sämtliche Straßen statt mit Namen mit so was beschriften: »sy55a-Straße«. »Jj2t-Weg«.
14. August 2024
Heute in den Mails: »Ihre Sendung mit der Sendungsverfolgungsnummer 2013070533 von Amazon wird seit dem 23. Juli 2024 bei den Kostümen gehalten. Für weiter Informationen klicken Sie hier.« Da hat ein Betrüger Pech gehabt und einen schlechten Übersetzungsautomaten erwischt, der aus customs Kostüme macht. Ich möchte dem Automaten folgenden Satz vorlegen: »Weil das Schloss klemmte und der Hahn tropfte, zog der Leiter den Handwerker vor Gericht.« Auf Englisch käme vielleicht das heraus: »Because the castle was jammed and the rooster was dripping, the ladder took the workman to meal.« Und daraus würde auf Italienisch vielleicht das: »Poiché il castello era inceppato e il gallo gocciolava, la scala portò l'operaio a mangiare.«
10. August 2024
Beim Aufräumen habe ich ganz hinten in einer Schublade einen Schoppen gefunden. Die beiden Enkelchen , die daraus getrunken haben, sind inzwischen junge Männer und machen so aufregende Sachen und Reisen, dass ich oft um sie bange. Damals, zum Schoppen, wollten sie, dass ich »Der Mond ist aufgegangen« singe, auch mitten am Tag, wenn die Sonne brannte. Die dritte Strophe gefällt mir am besten: »Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehen.« So etwas Wunderbares wird selten geschrieben. Der Dichter, Matthias Claudius (1740-1815), hatte so nebenbei noch zwölf Kinder.
2. August 2024
Die Jungfrau Maria von Fátima habe Präsident Trump vor dem Tod bewahrt, als am 13. Juli ein Attentäter auf ihn schoss. Das sagt eine Gruppe frommer Menschen in den USA. Denn genau an einem 13. Juli sei die Jungfrau den Hirtenkindern erschienen, und zwar zum dritten Mal, im portugiesischen Fátima, 1917. Ich habe bei Wikipedia nachgelesen, welche Persönlichkeiten an einem 13. Juli gestorben sind. Da sind mir so klangvolle Namen wie Johann Franz Peickhardt (†1706) oder Heinrich Leonhard Schurzfleisch (†1722) aufgefallen. Leider mussten sie den Schutz der Jungfrau von Fátima entbehren, weil diese erst zweihundert Jahre später zu wirken begann.
28. Juli 2024
Ich liege nachts lange wach und beschließe, mein Bett zu genießen und überhaupt alles, was mein Leben gut macht – es ist so vieles: Eine Familie, die ich liebe. Ein Beruf, den ich mag. Ein Körper, der zwar alt ist, aber freundlich. Bücher-Bäume-Blumen-Katzen, die mich freuen. Eine schöne Stadt, die nah ist. Ein vorbildliches Land, das meine Heimat ist. Ich liege noch länger wach und stelle fest, dass ich keine gute Patriotin bin. Ich will lieber ein paar Milliarden für den Planeten als für das Land ausgeben, nämlich zur Rettung des Klimas statt zur Anschaffung von Kampfjets. Sollte es Krieg geben, so würde nicht wollen, dass die Schweiz blutvergießend und todesmutig um ihr Überleben kämpft. Ich würde lieber mein Land begraben als meine Enkel. Vielleicht müsste ich zähneknirschend eine neue Sprache lernen. Und würde dabei meine Gedanken auf schweizerdeutsch weit weit fliegen lassen. Ja, so eine wäre ich. Mal sehen, ob ich beim Aufwachen noch immer so bin.
25. Juli 2024
Ich frage mich, ob man mit sich schweigen kann. Ob man zum Schweigen nicht noch jemanden braucht, der es wahrnimmt. Mit sich reden, das geht. Wenn man es laut tut, ist man eine komische Alte. Wenn man es lautlos macht, ist es das Gleiche wie Denken. Wäre ich Eremitin, auf einer Säule am Euphrat oder in einer Grotte am Pilatus, würde ich lernen, so überaus lautlos zu reden, bis ich meine Sätze sehen könnte wie farbige Wolken von tanzenden Faltern. Am liebsten hätte ich einen Mix aus Himmelblau und Zitronengelb.