»Tage, Tage«

30. November 2022

Ob im Roman, an dem ich gerade arbeite, viel zu oft »shit« oder »Scheiße« oder ein anderer grober Ausdruck vorkommt, kann ich im Word-Programm mit »suchen/ersetzen« einfach überprüfen und allenfalls ändern. Aber fluchen will und muss ich. Manche Protagonisten reden nun mal so. An Lesungen gehen diese Flüche dann auch über meine Lippen, egal, wie viele gebildete, artige Damen dabei zusammenzucken. Ich fluche auch bei anderen Gelegenheiten, eher nur dann, wenn ich allein bin. Es ist herrlich, Ärger oder Wut oder Frust so einfach in die Luft zu spritzen. Ja, ich war auch mal wohlerzogen, und ja, ich weiß, statt fluchen ließe sich auch meditieren. Die ukrainisch-deutsche Publizistin Marina Weisband stickt gern – in der Ukraine hat Sticken Tradition. Unter anderem stickt sie Schimpfwörter. Sie stickt in feinster Schreibschrift »Verdammte Kackscheiße« und umrankt das mit Blüten und Blättern. Es ist wunderschön.

10. November 2022

Vor rund siebzig Jahren habe ich meiner Mutter das Inhaltsverzeichnis eines Gedichtbands von Max Bolliger so vorgelesen, als seiʼs ein Gedicht:

»Hände einer traurigen Frau / Auch das ist gut / März / Ganz ohne Schwere«

Meine Mutter hat mir geglaubt, und wir haben dann sehr gelacht.

Heute habe ich auf dem Computer bei GPT-3 Folgendes eingespeist: »Bitte Gedicht schreiben: Hände einer traurigen Frau«. GPT-3 ist ein Sprachmodell mit künstlicher Intelligenz. In Sekundenschnelle wurde ein neues Gedicht nach dem andern ausgespuckt. Zwei Beispiele:

»Wenn ich meine Hände betrachte, / sehe ich die Stelle, / wo einmal mein Ring steckte, / den ich so liebte, / doch er ist nicht mehr da, / denn er wurde mir genommen, / als mein Liebster starb.«

Oder:

»Was ist das Schönste an den Händen einer traurigen Frau? / Dass sie immer noch sanft sein können, / wenn alles andere schon längst verloren ist.«

Also: Ein bisschen unheimlich ist mir das schon.

4. November 2022

Die Predigergasse in der Altstadt ist kurz und schmal und still, kein Auto, kein Shopping, so muss es hier vor hundertfünfzig Jahren gewesen sein. Aber jetzt, jetzt schreit jemand, eine Frau, gerade eben ist sie in die Gasse eingebogen. Sie schreit so laut, dass sich die wenigen Passanten nach ihr umdrehen und dann schneller laufen. Es gibt doch die Metapher, dass einem das Blut stockt - die passt. Aus tiefster, rauer Kehle schreit die Frau einen Fluchschimpf nach dem andern. Verlogenes Schwein, Heuchelschwein, Nazisau, du verdammte, verheuchelte, du elende Lügensau, du. Noch nie habe ich jemanden so laut, so verzweifelt fluchen gehört. Jemand hat der Frau etwas angetan, hat sie beschissen, betrogen, verseckelt. Und nun ist es, als fliege sie auf ihrer Wut durch die Gasse davon.

16. Oktober 2022

Selten kommt es vor, so alle ein zwei Jahre, dass ich mit sämtlichen Nachkommen an einem Tisch sitze. Mit meinen discendenti, descendants, meinem offspring – große Wörter für gerade mal fünf Menschen. 58 der älteste, 17 der jüngste: Sohn, Tochter, drei Enkel. Ich sehe die fünf schönen geliebten Gesichter und wünsche mir, dass ihnen ein langes frohes lustiges wundersames Leben beschert sei. Jawohl, auf der gebeutelten geschundenen gefährdeten wundersamen Erde ein langes frohes lustiges wundersames Leben. Mein Wünschen wird so groß, dass ich beinahe platze - wie damals am Kiosk der Dampfschiffstation in Luzern, wo ich als Kind fast platzte im Wünschen, man möge mir das kleine, am Gummiband tanzende Pelzäffchen kaufen. Bitte, denke ich an diesem Tisch, ihr meine Liebsten, habt ein gutes Leben, auch wenn ich es nicht mehr erfahre. Vergesst nicht: lang froh lustig wundersam soll es sein. Das Äffchen damals hat man mir nicht gekauft. Dafür hab ich das Wünschen ganz gut gelernt.

28. August 2022

Für die achtzehnjährige Catharina ist der 28. August bis zwölf Uhr mittags absolut furchtbar. Ihr ist, als würde sie zerrissen. Was für ein Horror, diese Wehen. Was für eine Qual, dieses Gebären. Und die Hebamme ist eine ungeschickte Kuh. Als es endlich schlüpft, das Kind, heißt es, es sei tot. Als es endlich doch noch schreit, möchte Catharina nur noch die Augen schließen und tief ins Dunkle versinken. Doch da betritt Johann Caspar, Ehegatte und kaiserlicher Rat, das Zimmer. Sagt, sein Wunsch sei, dass das Kind Johann Wolfgang heiße. Sagt, sein Bemühen sei, dass aus Johann Wolfgang etwas werde. Catharina ist alles egal. Mach, was du willst, denkt sie. Zieh die Vorhänge zu, bittet sie. Nein, nichts, auch  keinen Franzbranntwein!, schreit sie.

Könnte ja so gewesen sein, damals, 1749.

12. Juli 2022

Der Pilatus sieht immer noch aus, als stürze er sich kopfvoran in den See. Der See kommt mir immer noch grün vor. Das Wasser finde ich immer noch kalt. Das Tuten des Dampfschiffs und das Geläute der Luzerner Hofkirche klingen immer noch gleich. Und das kleine Glück nach den ersten paar Schwimmzügen ist immer noch da. Aber uff: Meine Knochen sind alt, mein Fleisch ist schlapp, meine Seele ist übervoll, und die Kindheit ist längst untergegangen. In dieser Badeanstalt, so nannte man das, habe ich schwimmen gelernt und bin vor rund siebzig Jahren mit Schwester links und Mutter rechts zum ersten Mal in den See hinaus geschwommen. Fünfundvierziger hieß die Anstalt, weil der Eintritt fünfundvierzig Rappen kostete. Jetzt bezahlt man sechs Franken, dreizehnmal mehr als damals, und auf der Welt leben dreimal mehr Menschen als damals, und ich bin nullmal gescheiter als damals.

2. Juli 2022

Auf der römischen Tiber-Insel steht seit 1585 das Krankenhaus Fatebenefratelli, heute ein modernes Spital in alten Mauern. Davor ein Maserati mit der Aufschrift Onoranze Funebri, also Bestattungsinstitut, lang, silbern, mit einer Einschubschiene für den Sarg. Schöne letzte Reise! Apropos letzte Reise: 1943 wurden in Fatebenefratelli von den Nazis bedrohte Juden aufgenommen, und Dottore Borromeo erfand für sie eine Krankheit: Morbus K – K nach den deutschen Besatzern Kappler und Kesselring. Sie verursache Krämpfe, Lähmungen, Demenz und Tod durch Ersticken. Sehr gefährlich. Hustet, hustet!, hieß es in der sogenannten Isolierstation, und die Nazis sahen von Durchsuchungen ab. Man schätzt, dass so etwa hundert jüdischen Menschen die furchtbare letzte Reise erspart blieb, die ins Vernichtungslager.

1. Juli 2022

Wir haben in der Kirche Santa Maria gesessen, in Rom-Trastevere, und zu den Mosaiken in der goldenen Apsis hochgeschaut. Da steht das Lamm Gottes mit Heiligenschein und links und rechts sind je sechs weitere Lämmer, wohl die Apostel. Es war still, kaum Leute da, ein Wochentag. Aufs Mal eilte wehenden Gewandes ein Priester herbei, nahm Position, und dann erscholl von der Orgel der Hochzeitsmarsch! Wer vorne saß, drehte den Kopf. Zwei Menschen kamen sehr langsam durch den Mittelgang geschritten, ein recht Alter, groß, dünn, und eine recht Alte, klein, rund. Beide dunkel gekleidet, sie trug ein Sträußchen. Und den beiden voraus trippelte ein Mädchen, es trug ein blaues Samtkissen, darauf lagen wohl die Ringe. Was für ein überraschendes mutiges Paar. Ich glaube, die dreizehn Schafe haben verhalten geblökt.

17. Mai 2022

Die Teenies im Museum standen vor Ad Parnassum von Paul Klee, 1932, und eine kunstsachverständige Dame gab eine Interpretation ab. Den beiden Jungs zuhinterst – rote Mütze, schwarze Mütze – kommentierten umgehend, was sie sagte, halblaut, so dass ichʼs verstand und merkte: Denen ist jetzt nicht nach Kunst zumute. Aus »Ad Parnassum« machten sie »Ad Parnasshole« und aus »Heiliger Berg« »Heiliger Bimbam«. Als die Dame nach der Bedeutung der roten Scheibe fragte, sagte die schwarze Mütze »Wursträdeli«, und als sie Klees Reise nach Tunesien erwähnte und was ihnen dazu einfalle, rief die rote Mütze »Couscous!« Was damit meine, wollte die Dame wissen. »Mit Couscous«, sagte die schwarze Mütze, »meint er die vielen Punkte, aus denen das Bild gemacht ist.« »Interessanter Aspekt«, sagte die Dame, »Pointilismus. Interessant.«

9. März 2022

Jetzt ist die »Wonder of the Seas« in See gestochen oder besser: in See gewalzt. Das Schiff ist fünfmal so groß wie die Titanic und hat 15 Decks, 52 Aufzüge, 19 Pools. Hat nebst manch anderem auch Kletterwand, Tennisplatz, Golf- sowie Surfsimulator, Diskothek, Theater, Kino, Casino, Eislaufbahn, Wasserrutsche, zehnstöckig. Hat einen Park mit 20ʼ000 Pflanzen und Bäumen. Hat 19 Restaurants zum Fooden und 1 Kapelle zum Beten, näher mein Gott zu dir. Ist ja alles schön, aber warum geht man dazu aufs Meer? Hat Platz für 6988 Gäste, dazu kommen 2300 Mann/Frau Besatzung. Für 9288 Menschen kann ich aber auch nach Rorschach am Bodensee gehen (Bevölkerungszahl vom 1.1.18). Oder nach Mittenberg in Bayern (Bevölkerungszahl vom 30.6.17). Fast hätt ichʼs vergessen: In jeder Kabine gibt es einen Haartrockner. Auch Duschhaube? 

9. Februar 2022

Wir sitzen auf einer Bank auf dem Rigi. Im Horizont ein weißer Spitzenkragen: Schneeberge. Unter uns ein dunkelseidenes Tuch: der See. Darin ein zum Schlaf hingelegter Riese: der Bürgenstock . Über uns eine hellblaue Kuppel mit Öffnung ins All: der Schönwetterhimmel. Und wir sind still. Und die Welt wär still. Wären da nicht drei auf der Nachbarbank: »Griti macht den Gratin ohne Zwiebeln.« »Meinetwegen, aber Vollrahm muss rein.« »Ein Gratin passt immer, auch ohne Fleisch.» »Also ich hab nichts gegen eine Wurst dazu.« »Aber wenn Wurst, dann Schweinswurst.« »Muss ja nicht immer Braten sein.« »Griti macht den Braten neuerdings mit Speck gespickt.« »So sieht sie auch aus.« Nun wächst hinter dem Pilatus  eine Wolke heran, sieht aus wie Eierschnee. Griti würde ihn vielleicht in den Gratin mischen.

29. Januar 2022

29. Januar 2022

Ich bin Comic-Analphabet, das heißt: Ich kann einen Comic nicht richtig aufnehmen. Ich lese und vergesse zu schauen, oder ich schaue und vergesse zu lesen. Eine der wenigen Graphic Novels, die ich mir ganz und gar einverleibt habe, heißt »Maus«. Der Autor Art Spiegelman schreibt und zeichnet die Geschichte seiner Familie im Horror des Holocaust. Die Juden sind Mäuse, die Nazis sind Katzen. Was für ein wunderbares, abgrundtief trauriges Buch. »Maus« erhielt 1992 den Pulitzer-Preis und wurde bald eine hilfreiche Lektüre, um Jugendliche über die Shoa aufzuklären. Nun hat die Schulbehörde von McMinn County in Tennessee USA das Buch aus dem Lehrplan für die achte Klasse entfernt. Es enthält acht Schimpfwörter – zum Beispiel »goddam« und »how the hell« - und einen nackten Busen. Und es zeige, so der Schulrat, unnötige Gewaltdarstellungen: »Es zeigt Leute am Galgen, es zeigt wie sie Kinder töten… « Ja was, bitte sehr, war denn der Holocaust, wenn nicht Gewalt?

13. Januar 2022

Ich nehme das Telefon ab, Musik, eine Tonbandstimme sagt: »Hier spricht die Polizei, in Ihrem Quartier ist eingebrochen worden, lassen Sie niemanden ins Haus, der zuständige Beamte heißt Steiner, Sie werden so bald als möglich verbunden. Ihr Passwort lautet: Blume.« Musik. Wozu brauche ich ein Passwort, denke ich, was zum Teufel … Jetzt spricht jemand live, ein sehr hochdeutscher Herr sagt, er sei von Interpol, man habe die Einbrecher gefasst und bei ihnen ein Notizbuch mit meinem Namen gefunden, »Angelika Waldis«, sagt er, »stimmt, doch oder? Die Gefahr besteht leider, dass die Täterschaft auch Sie im Visier hat. Auf welche Gegenstände könnte sie es denn wohl abgesehen haben? « »Seltsame Geschichte«, sage ich, »ich glaube Ihnen kein Wort.« Da legt Interpol auf. Ich rufe die Kantonspolizei an, um den Anruf zu melden. Der Beamte am Telefon heißt Wasser. Passt schön zum Passwort Blume.

12. Januar 2022

In Kambodscha ist Magawa gestorben. Sie hat in ihrem Leben 100 Landminen aufgespürt und dafür einen Orden erhalten. Sie war die berühmteste Minensuch-Ratte der Welt. Niedlich schaut sie aus, und darum hat man ihr wohl heute in der Zeitung eine halbe Seite eingeräumt. Ich möchte gerne in der Zeitung mal eine halbe Seite über einen Minenfabrikanten lesen. Wie heißt, lebt, wohnt, isst, reist, träumt er? Legt er sich abends auf eine Corbusier-Liege, schaut in den Sonnenuntergang und streichelt ein Kätzchen oder Rättchen? 1999 trat die Ottawa-Konvention in Kraft. Sie verbietet das Entwickeln / Fabrizieren / Erwerben/ Lagern / Einsetzen / Weitergeben von Antipersonen-Minen. 32 Staaten haben sie noch immer nicht unterzeichnet, darunter China, Indien, Russland und die USA. Jedes Jahr werden Tausende Menschen durch Landminen getötet oder verstümmelt. 2019 waren es 5554, davon 80 Prozent Zivilist/innen, davon 43 Prozent Kinder. Hat der Minenfabrikant ein Kindchen oder zwei?