»Liebe, nur das«, Roman.
»Liebe, nur das«, Roman
Eine wahre Geschichte erzählen, das geht nicht. Das Erzählen verwandelt eine wahre Geschichte in eine andere Geschichte, denn erzählend werden tausend Bilder und Klänge erfunden, um die wahre Geschichte ans Licht zu locken. Doch die wahre Geschichte bleibt immer zusammengeringelt in ihrer dunklen Kapsel.
Dina hieß eigentlich nicht Dina, und auch er hieß anders. Aber auch mit ihren richtigen Namen bliebe die Geschichte eine erzählte Geschichte, und sie dauert so nur gerade so lange, bis das Erzählen aufhört.
*
Im Aufprall spürte er, wie weich sie war.
Sie waren an der Ecke des Korridors zusammengestoßen. Als er ihre bloßen Füße sah, wusste er, warum er sie nicht hatte kommen hören. Sein Buch schlitterte über den Boden, sie bückten sich beide danach, dabei kam sein Ohr mit ihren Haaren in Berührung. Sie hatte viel dunkles, geringeltes Haar. Sie sagte: Tut mir leid.
Das war nach Ostern.
Er dachte ein paarmal an die Frau mit den bloßen Füssen. Was hatte sie im Schulhaus gemacht. Eine Lehrerin war es nicht. Für eine Schülerin war sie zu alt. Und eine Mutter auf Schulbesuch hätte Schuhe getragen. Schuhe, die auf dem alten dunkelgrünen Linoleum zu hören gewesen wären. Er gewöhnte sich an, seine Schritte vor jener Ecke des Korridors zu verlangsamen.
Im Juni sah er sie wieder.
Er stand vor dem Rektorat und streckte die Hand nach der Türklinke aus, da wurde die Tür von innen aufgerissen und die Dunkellockenfrau stürmte heraus und sagte Arschloch. Dann lächelte sie ihn an, und er wusste, dass sie nicht ihn gemeint hatte. Diesmal trug sie Schuhe, Sommerschuhe, die Zehennägel glänzten dunkelrot.
Zweimal waren sie einander nahe gekommen. Er hoffte auf ein drittes Mal. Und er sah sie auch wieder, aber nur von weitem. Sie stand unter der Küchentür der Mensa, er stand mit dem Tablett in der Reihe der Wartenden vor der Theke. Hierher gehörte sie also. Sie hatte die vielen Locken mit einem roten Band zurückgebunden. Es durfte nicht sein, dass eines ihrer dunklen Haare aufs Essen geriet, auf die Hackfleischplätzchen von Menü 1 oder in den Kartoffelsalat von Menü 2. Nein, das durfte nicht sein, sie war die Chefin hier. Das erfuhr er erst später. Als er mit seinem Tablett zur Kasse vorrückte, von wo er hätte sehen können, ob sie Schuhe trug, war sie verschwunden.
In jenem Juni ging er einige Male mit Harriet aus. Seine Mutter wünschte sich das. Harriet, die Tochter ihrer kanadischen Jugendfreundin, war auf Europareise und wohnte ein paar Wochen bei seinen Eltern, sie schlief in seinem alten Zimmer. »Sie ist ganz reizend«, sagte seine Mutter, »willst du sie nicht ein bisschen herumführen?« Er wollte nicht, aber tat es doch. Harriet war blond, hübsch und höflich. Sie war jemand, der beim Gähnen nicht den Mund öffnete, sondern den Impuls sofort mit rabiater Heftigkeit zwischen Gaumen und Kiefer zerdrückte. »Vielleicht könntest du mit ihr mal in die Berge fahren«, sagte seine Mutter, und das hieß so viel wie: Vielleicht könntest du dich endlich mal angemessen verlieben. »Sie ist nett, nicht?«, sagte seine Mutter. Harriet war nett und niedlich, außer wenn sie gähnte. Dann sah sie böse aus. Er verliebte sich nicht. Wenn er Harriet anfasste, spürte er nicht mehr, als wenn er in sein eigenes Jackett schlüpfte.
Jede Zwischenstunde, jede größere Pause nutzte er nun, um in der Mensa Kaffee zu trinken. Es war schlechter Kaffee. Er ließ die Tür zur Küche nicht aus den Augen. Sternschnuppen fallen meistens, wenn man selber gerade nicht hinschaut. Und so warʼs dann auch. Er bückte sich nach seiner Papierserviette, und da stand sie plötzlich an seinem Tisch. Sie kannten einander, das war sofort klar. Sie sahen sich an, als hätte sie ein Zeremonienmeister schon vor Jahren bekannt gemacht. »Warum trinken Sie den Kaffee nicht?«, sagte sie. »Weil er schlecht ist«, sagte er. Sie setzte sich und trank einen Schluck aus seiner Tasse.
Sie war seit Anfang Jahr Leiterin der Mensa und hatte einiges unternommen, was der Rektor kritisierte. Sie hatte alle Topfpflanzen verschwinden lassen, im Freien Rauchertische eingerichtet und durchgehende Öffnungszeiten eingeführt. An den Wänden hingen neuerdings Kunsthausplakate, Radiomusik gabʼs nicht mehr, dafür Bier und Wein für die Lehrerschaft, und das Menü 2 war konsequent vegetarisch. Sie hatte eine neue Kaffeemaschine beantragt und war abgeblitzt. Das alles erfuhr er, während sie an seinem Tisch saß und aus seiner Tasse trank. Dann fragte sie ihn aus, und er ließ es geschehen. Es fühlte sich an, wie wenn sie ihm ein Kleidungsstück ums andere auszöge, obwohl sie bloß wissen wollte, was er hier tat und seit wann und ob erʼs gern tue und wie er heiße. Und als er sozusagen nackt dasaß, lächelte sie ihm zu. »Wollen Sie sich mein Schulzimmer anschauen? Um vier?«, sagte er und erschrak über seine Unerschrockenheit.
Als er Dinas Gesicht berührte, war es, als sehe er zum ersten Mal ein Gesicht. Er spürte eine ähnliche Aufregung wie vor Jahren, als er – durchs Zugfenster – zum ersten Mal eine völlig ebene, in die Unendlichkeit reichende Landschaft gesehen hatte. Wie schön das war. Dina hielt die Augen geschlossen, während er mit dem Zeigefinger über Brauen, Jochbeine, Nasenflügel strich, und über den dunklen Schimmer der Härchen entlang der Oberlippe. Ach Hajobo, sagt sie. Hajobo nannten ihn die Schüler. Es war die korrekte Abkürzung für Hans Joachim Bodmer und störte ihn weiter nicht. Dann klopfte es an die Schulzimmertür, und sie fuhren verstört auseinander.
Im Juni rauschte die Liebe durchs offene Fenster herein und ließ sich ungefragt nieder. Liebe, also das, was er als überbewertete, von der Literatur strapazierte, kaputtbeschworene und plattgewalzte Gefühlsmasse ansah, machte sich ungestüm über ihn her.
Als sie zum ersten Mal ausgingen, blühten immer noch die Kastanien, wie vor einer Woche, als er mit Harriet unterwegs gewesen war. Harriet hatte die Blüten höflich bewundert. Dina sagte nichts dazu, aber sie blieb ein paarmal stehen und blickte hoch, zu den weißen und roten Blütenkerzen in der Dämmerung. Das berührte ihn, seine Aufregung wurde noch grösser, und er hätte gerne Eichendorff zitiert. Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst, dass sie im Blütenschimmer ... Aber dann hätte sie ihn womöglich ausgelacht. Nur zu, Herr Deutschlehrer. Das war er nun mal, Deutschlehrer, Hans Joachim Bodmer, vertraut mit allen Kapriolen der Literatur, aber fremd in dem, was die Leute das Leben nannten. Sie saßen am See, der Abend war lau, und er ließ sich von Dinas Fragen wieder ausziehen. Aus den Lautsprechern des Gartenrestaurants war eine Sängerin zu hören, take me to your heaven. Das Lied habe kürzlich den Grand Prix Eurovision gewonnen, sagte Dina. Take me to your heaven, take me to your heart. »Das war in Jerusalem«, sagte Dina. »Warst du mal in Jerusalem?«
Um Mitternacht standen sie vor ihrer Haustür, draußen in Altstetten. Den ganzen Weg waren sie zu Fuß gegangen, brauchten die Schritte einander nicht extra anzupassen, das ergab sich rasch von selbst. »Soll ich mit hochkommen?«, sagte er. Stimmt nicht. Es war Dina, die ihn fragte. Sie fackelte nicht lange oben in der Wohnung, sondern zog gleich das gelbe Kleid über den Kopf und warf es auf den Boden, strampelte sich aus dem Slip und hakte den Büstenhalter auf, so dass der große weiße Busen herausfiel wie ein befreites Wesen. Sie sagte auch gleich, wie viel älter er sei als er und entblößte vielleicht darum ohne Hemmungen ihre breiten Hüften und ihren runden weichen Bauch. Er versank in Dina, er ertrank in Dina, und ganz zuhinterst im Kopf dachte er, so was zu schreiben, wäre Kitsch.
Am folgenden Tag kam sie zu ihm ins Schulzimmer und legte ein dunkelgrünes glänzendes Ei aus Stein auf seinen Tisch. Die beiden Schüler, die nachsaßen, schauten unverhohlen neugierig zu. Das Ei rollte über die blanke Tischplatte bis zum Rand und blieb dort liegen. »Es kommt aus Kappadokien«, sagte Dina. »Wie ich.« Er blickte zu den Schülern, sie senkten die Köpfe, er nahm das Ei und steckte es in die Hosentasche. Dina berührte ihn nicht. Er begleitete sie hinaus in den Korridor, dort schaute sie zuerst nach links und rechts, bevor sie ihn flüchtig küsste. Der leichte Schmetterlingskuss reichte, um ihn benommen zu machen. Als er das Zimmer wieder betrat, wunderte er sich über die plötzliche Dunkelheit. Es donnerte. »Der Blitz hat mich getroffen«, sagte er zu den beiden Schülern. »So fängt ein Gedicht an bei Ringelnatz.« Sie machten ratlose Gesichter und schauten auf seine von Dinas Ei ausgebeulte Hosentasche. Was sollte er mit dem Ei? War das ein Glücksbringer? Er wusste nichts anzufangen mit solchen Geschenken. Der esoterische Beigeschmack war ihm unangenehm. Er legte das Ei aufs Fensterbrett. Es passte zum Dunkelgrün der gewitterlich rauschenden Bäume. Morgen würde er wieder in die Mensa gehen wie jeden Tag. Nicht immer war sie zu sehen. Aber allein die Möglichkeit, dass sie zu sehen sein könnte, machte ihn angenehm fiebrig. Bis zu den Sommerferien blieben noch drei Wochen.
Es war das Jahr 1999, und bereits war vom Knall der kommenden Silvesternacht die Rede. Auch Dina sprach davon, und wollte den Einwand nicht hören, das neue Millennium beginne genau genommen erst ein Jahr später. »Zweitausend ist zweitausend«, sagte sie. »Und wenn wir uns zweitausendmal küssen wollen, fangen wie besser gleich damit an.« Schon ein paarmal hatte er in ihrer Wohnung die Nacht verbracht und sich am nächsten Morgen unrasiert vor die Klasse gestellt. In der ersten Schulstunde glaubte er jeweils, noch Dinas Bett zu riechen, bisschen Zimt, bisschen Wald. Inzwischen mochte er ihre gehäkelte Decke, die Flamingoposters, den Leopardenteppich, die TausendundeineNacht-Lampen. Ihre Wohnung war so üppig wie Dina selber. Einmal, als er zwischen Dinas Lotosblütenlaken lag, stellte er sich vor, seine geschmackssichere Mutter stünde plötzlich am Fuß des Betts, und er lachte still in sich hinein. Er streichelte die schwarzen Härchen über Dinas Lippe. »Lach mich nicht aus«, sagte sie. »Wenn ich den Schnurrbart nicht hätte, könnte ich nicht schnurren.« Über dem Nachttisch hing gerahmt die 3½ Penny-Briefmarke mit dem Hochzeitsfoto der englischen Prinzessin Anne:14 November 1973. Warum hängte man so etwas auf? Egal. Was zwischen ihnen geschah, war seltsam bedingungslos. Es war wie ein chemischer Vorgang, der in irgendeinem Gefäß zu irgendeinem Zeitpunkt stattfinden kann und sich nicht aufhalten lässt. Dass sie sich dann mehr und mehr in seiner Wohnung trafen, hatte damit zu tun, dass er einen Balkon hatte und sie nicht. Nach dem verregneten Juni war nun der Juli ungewöhnlich warm. Wenn er mitten in der Nacht erwachte, fand er Dina nicht mehr neben sich, sie lag auf einer Decke auf dem Balkonboden und schlief mit ausgebreiteten Armen, so als wolle sie alle gesammelte Wärme des Tages und alle Lichter des Himmels in sich aufnehmen. Er hielt sich zurück und berührte sie nicht.
Es war noch nicht lange her, dass er seine Dissertation über zeitgenössische Naturlyrik geschrieben und sich mit Karl Krolow befasst hatte. Als er mit Dina beim Essen saß und aus dem Radio hörte, dass Krolow gestorben war, kam er sich vor wie ein Betrüger. Denn er hinterging Dina mit Dingen, die er wusste und sie nicht. Er würde einen Band mit Krolows Gedichten zur Hand nehmen, wenn Dina nicht dabei war, würde sich ohne sie Krolows Zeilen schmecken lassen. Krolow war nichts für Dina. Wie konnte er wiedergutmachen, dass er ihr nicht alles weitergab, was ihn bewegte. Dina schien nichts vor ihm zu verbergen. Sie sang die Songs der Hitparade in seiner Küche, und Tränen schossen ihr in die Augen, wenn sie von der verstorbenen Prinzessin Diana sprach.
Dina stimmte.
Er liebte eine Frau, die fünfzehn Jahre älter war als er, die einen Schnurrbart und einen türkischen Großvater hatte. Sich nach einer Umarmung von ihr zu lösen, war wie Pflaster von der Haut zu reißen.
Das dunkelgrüne Ei blieb im Schulzimmer, auf dem Fensterbrett. Die Schüler rührten es nicht an, was ihn wunderte. In seiner vermeintlichen Unverrückbarkeit bekam es mit der Zeit etwas Magisches. Dina erschien nicht mehr im Schulzimmer.
Er hatte sich einen Bildband über Kappadokien beschafft, wo die Familie von Dinas Mutter ursprünglich herkam. Immer wieder blätterte er ihn durch und sah beinahe fassungslos, was für eine hocherotische Landschaft das war. Da stand ein Tuffstein-Phallus neben dem andern und ragte in eine beängstigende Himmelsweite, und dazwischen gab es kleine feuchtgrüne Felder und Tupfer von Mohnrot und Irisblau. Der Fels war so weich, dass sich über Jahrhunderte Menschen darin eingegraben hatten, ganze Wohnstätten und Kirchen ins Dunkle hinein gebaut hatten. Er ließ den Bildband im Schulzimmer und wartete darauf, dass sie ihm von Kappadokien erzähle, aber als er sie darauf ansprach, sagte sie »Da kenne ich niemanden mehr.« Und später: »Kein Mensch bringt mich je wieder nach Ürgüp.«
Ürgüp klinge wie ein Rülpser und sei ihr auch so vorgekommen. Das Kaff werde mit Touristen überfüttert, die es nur schlecht verdauen könne. Alles sei hässlich in Ürgüp, sogar ihre Cousine, die im Büfe am Busbahnhof arbeite. Was sie dort am meisten störe, sei das Bescheißen und Beschissenwerden. Sie hatte keinerlei Hemmungen vor Wörtern wie ›beschissen‹. Sie kamen höchst adrett aus ihrem Mund, ihr ›beschissen‹ war nicht unzarter als ›erblassen‹ oder ›vergessen‹ in irgendeinem Stück Poesie. Wenn sie sagte: Der kann mich mal, dann kam das daher wie der Anfang eines Sonetts. Was sie für nicht der Rede wert befand, bezeichnete sie jeweils als Katzenkacke, und er sagte ihr nicht, dass das allerbeste Alliteration war.
Er werde dieses Jahr nicht nach Südfrankreich kommen, sagte er seiner Mutter am Telefon, er habe andere Pläne für die Sommerferien. »Erzähl«, sagte sie. Er fahre in die Türkei, sagte er, und sie sagte, o Gott. Er wusste, was für ein Gesicht sie dazu machte. Man spielt doch diesen Massentourismus nicht mit!, sagten ihre Nasenlöcher. Er habe eine Einladung vom Goethe-Institut, sagte er und glaubte ein Klicken zu hören, als sich ihre Kiefer entspannten. »Schade«, sagte sie. Dieses Jahr kämen die Kuhns, auch die Nauers und ein wunderbarer junger Cellist. Auch Rose und ihr neuer Freund hätten sich angemeldet. »Wir werden großartige Gespräche haben«, sagte sie. Sie habe für sämtliche Betten des Hauses neue Satinwäsche gekauft, lavendelblau.
Die Kuhns waren ein versteinertes Ärztepaar und die Nauers eine geschwätzige Opernbekanntschaft, die Rose war eine düstere Schönheit aus Vaters einstiger Firma, und der Cellist wahrscheinlich irgendein unglücklicher Eleve des Konservatoriums. Mutters Ehrgeiz, das Ferienhaus in Südfrankreich zu einem kulturellen Treffpunkt zu machen, schien ungebrochen. »Schade«, sagte sie noch einmal, »aber das Goethe-Institut geht natürlich vor.«
»Wohin wollen wir in den Ferien fahren?«, fragte er, als er mit Dina auf dem Bett lag. Ach, Dina, du meine Goethe-Institut, dachte er, grub sein Gesicht in ihren weichen Bauch, und sie wollte wissen, ob er lache.
Dina war gelernte Köchin, er hatte ihr Diplom gesehen, es hing an ihrer Schlafzimmertür, unter ihrem schwarzen Morgenmantel. Dina Neumann, geboren 1954 in Schlieren. Sie kochte ohne Leidenschaft, sie aß bloß gern. Alles, was er kochte, aß sie mit einer vergnügten Andacht. Einmal, als er Muscheln gekocht hatte, sagte sie »Schmeckt lecker. Nach Mann und nach Sommer.« Dass sie die Leitung der Mensa hatte übernehmen können, sei ihr Glück, sagte sie. Sie müsse nicht mehr am Herd stehen, in Blumenkohl- und Frittenöldunst. Das Essen der Mensa wurde in Containern angeliefert, sie brauchten es in der Küche nur noch aufzuwärmen und abzuschmecken. Zu Anfang hatten sich einige Lehrer beklagt, dass es zu scharf sei. Das war der türkische Pul-Chili, den Dina großzügig in die fertigen Suppen und Saucen streute. Inzwischen reklamierte niemand mehr. Manchmal schaute sie im Versteckten eine Weile zu, wie die Menschen aßen. Das sei wie Gespräche belauschen, sagte sie. »An der Art, wie sie schnuppern, beißen und schlucken, kannst du sehen, wie sie sind, wenn sie lieben und hassen.«
An einem Abend begleitete er Dina zum Schuhe kaufen und erlebte eine Stunde reinsten Glücks. Er saß da und sah zu, wie sich ihre Füße ein ums andere Mal vorsichtig in ein neues Gehäuse schoben, die Füße, die er inzwischen von Zeh bis Ferse liebte, die stillhielten, wenn er mitten in der Nacht die Sohlen streichelte und die Zehen auseinanderfaltete wie eine Mandarine. Ich darf nicht barfuß an die Versammlung der Kantinenbetreiber, hatte Dina gesagt, und probierte nun beflissen Schuh um Schuh, stellte sich vor den Spiegel, zupfte an ihrem schlabbrigen Sommerkleid, fuhr verlegen mit den Händen über die Rundungen von Bauch und Hüften, und er saß still auf seinem Sessel, umgeben von verworfenen und weggekickten Schuhen, und kostete die Vorstellung aus, aufzustehen und sie zu umarmen und ihr vor den Augen des Verkäufers unter den Rock zu greifen. Schwankend lief Dina in hochhackigen feuerroten Schuhen auf ihn zu und sagte »Ich glaube, du liebst mich«. Die schwarzgelackten Ballerinas, für die sie sich schließlich entschied, trug sie nie. Ein Gedicht über Füße, gab es das? Es fiel ihm keines ein.
Als Dinas Vater starb und seine Konditorei geschlossen wurde, kehrte Dinas Mutter in die Türkei zurück, wo sie noch drei Jahre lebte und dann von einem Taxi überfahren wurde. Dina war in der Schweiz zurückgeblieben, machte im Hotel Opera ihre Lehre fertig und heiratete den Chef de Service. Sie verließ ihn ein Jahr später am Hochzeitstag. »Er hieß René«, sagte sie, »warum willst du das wissen?« Und dann? Dann kamen die grauen Jahre. Und dann? Dann kamen die gelben Jahre. Und dann? Dann ... Wenn Dina von sich erzählte, tat sie so, als sei sie völlig unbeteiligt, als habe sie ihr Leben in irgendeiner belanglosen Broschüre gelesen. Die Mutter habe sie nicht gemocht, den Vater schon. Warum? Das sei doch nicht mehr wichtig jetzt. Nach all den grauen und gelben Jahren. »Du fragst wie ein Gerichtspräsident«, sagte sie. »Dabei hab ich fast gar nichts verbrochen.« Sie riss den Arm hoch zum Schwur, der lockere Ärmel fiel zurück und entblößte ihre weiße Achselhöhle. Das war so anrührend wie aufreizend. Er war eifersüchtig auf jeden, der sie irgendeinmal berührt hatte, wollte alles über ihre Männer wissen, um es dann zu vergessen.
Einmal trafen sie in einer Buchhandlung auf seinen Vater, der sich über einen Bildband beugte und überraschend aufblickte. »Sohn!«, sagte der Vater erfreut, und schaute auf Dinas Hand auf dessen Hüfte. »Das ist mein Vater«, sagte er, worauf sich Dinas Hand von ihm löste. »Das ist Dina«, fuhr er fort und wusste nicht, was er weiter sagen sollte. Das ist Dina, meine Geliebte? Das ist Dina, meine Freude? Dina sah ihn erwartungsvoll an. Er bemerkte die Schweißperlen auf ihrer Nase und die zerknitterte unvorteilhafte Bluse. Es war ein heißer Tag. Sein Vater und Dina gaben sich die Hand.
Wie war es gewesen vor Dina. Er ging durch seine Wohnung und registrierte, was von Dina da war: die Illustrierte im Ledersessel, der rote BH über der Badewanne, der Abdruck ihres Kopfs auf dem Kissen und ein dunkles Haar, die Blumen im Wasserkrug und daneben ein angebissenes Stück Käse. Wie war es gewesen vor nur gerade drei Monaten. Sicher kälter, sicher stiller. Vielleicht wie die erste Stunde des Morgens, beim Hellwerden, wenn die Sonne noch nicht kam, wenn die Geräusche noch sparsam waren, eine Fahrradklingel, eine erste Amsel. Nicht unschön war es gewesen, das nicht, aber eben nur die blasse Kopie von irgendetwas wunderbar Unbekanntem, von dem Deutschlehrer Bodmer noch nichts ahnte. Und nun war nach der Frühmorgenkühle der volle Tag plötzlich da, wärmte, rauschte, flimmerte und machte, ha!, dass ihn ein angebissenes Stück Käse oder ein Haar auf dem Kissen schon fast entzückte.
Sie sei froh, dass sie nun bei ihm wohne, hatte Dina gesagt. Im Altstettener Haus lungere neuerdings am Abend ein junger Mann im Treppenhaus herum. Sie schien sofort zu spüren, dass er stutzte ob dieser Begründung und streichelte ihm weiteres Bedenken mit gründlicher Zärtlichkeit aus dem Gesicht.
In der Schule verlor er an Wohlwollen. Junglehrer Bodmer, mit seinen dreißig Jahren der jüngste am altehrwürdigen Gymnasium, war seiner fachlichen Publikationen und seiner Disziplin wegen geschätzt, und darum wurde er angefragt, an einer Schulreform mitzuarbeiten. »Sie müssten sich ein bis zwei Abende pro Woche freihalten«, sagte der Rektor und war erstaunt, wie umgehend der Junglehrer die ehrenvolle Anfrage zurückwies: Er habe zurzeit sehr viele Verpflichtungen und er bedaure sehr. Der Rektor entließ ihn ohne weitere Freundlichkeiten.
Die vielen Verpflichtungen bestanden darin, Dina von der Mensa abzuholen, an ihrer Seite Einkäufe zu machen und diese mit ihr zur Wohnung hochzutragen, Dina mit Blicken zu unterstützen, während sie Kleid, BH und Slip abstreifte und sich unter den Brüsten kratzte, sich mit ihr unter die Dusche zu stellen, gründlich zu überprüfen, ob alles noch da war, der Leberfleck im Nacken, die Rundung des Bauchs und die geriffelte Tektonik der Brustspitzen, und gründlich zu erkunden, ob alles noch gleich war in den feuchtwarmen Zonen des Tieflands. Eine weitere Verpflichtung bestand darin sie zu überreden, sich küssen zu lassen, überall dahin, wo sie sich nicht selber küssen konnte. Und immer waren die Abende zu kurz, verstehen Sie, Herr Rektor?
Manchmal bat er »Sag was Türkisches«, worauf sie auf ihn einredete. Es klang ein bisschen, als schimpfe sie ihn aus, und sie lachte ausgiebig über sein verständnisloses Gesicht. Wenn sie türkisch sprach, kam sie ihm seltsam kostbar vor, so als hätte eine osmanische Prinzessin ausgerechnet seine schiefwinklige Dreizimmerwohnung aufgesucht. Absolut nichts zu verstehen, machte ihm zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt nichts aus.
In der Schweiz hatte Dina keine türkischen Verwandten. Der neunzigjährige Großvater lebte in Istanbul. Sie hatte ihn vor fünf Jahren zum letzten Mal besucht. Da wusste er zuerst nicht mehr, wer sie war. »Als er meinen Namen schrieb, brauchte er wieder die arabische Schrift, die er als Kind gelernt hatte. Die später verordneten lateinischen Buchstaben schien er zu vergessen. Die großen Zähne in seinem Mund bewegten sich, als hätten sie Muskeln, und die viele Spucke entsorgte er in einer Tasse mit der Aufschrift »Willkommen in Interlaken«. Während sie von ihrem Großvater erzählte, schnitt Dina Gurken klein, bis die Stücke nur noch Erbsengröße hatten und sagte dann »Du erzählst nie etwas«.
Was sollte er Dina erzählen. Wie schilderte man einen Film ohne Handlung. Er war das Kind ordentlicher Schweizer, der Vater mit gutem Geschäftssinn, die Mutter mit gutem Geschmack. Auf dem Salontisch lagen die Neue Zürcher Zeitung, Home & Garden und der Opernkurier. Das Kind Hans Joachim geriet, war ein Soufflé, das wunderschön aufging und seine Höhe beibehielt. Es blieb gleichbleibend freundlich zu Vater und Mutter, besuchte sie an Fest-und Feiertagen, und sie wussten nicht, dass es sich über die Jahre mit galaktischen Schritten von ihnen entfernte. Das Sichentfernen hatte angefangen, als Hans Joachim sechzehn war und sich einen Band Gedichte kaufte, »Von Klabund bis Borchert«.
Was sollte er Dina erzählen. Was erzählt ein Schatten seinem Baum.
Am letzten Schultag vor den Ferien rief Mutter an. »Jules sagt, du hast jemanden kennen gelernt. Er hat euch in der Buchhandlung getroffen. Du weißt, ich bin neugierig«, sagte sie. »Willst du sie mir nicht vorstellen? Wir geben morgen ein kleines Gartendinner. Die Rosen blühen so herrlich.«
Nein, Mutter, das geht nicht.
Es war Zeit, zu fliehen.
Er dachte, etwas anderes als die Liebe ginge ihn nichts mehr an und verstand nicht, warum er gleichzeitig so feige war: Er wollte Dina nicht neben Mutter auf der englischen Gartenbank sitzen sehen, ihre weißen runden Beine neben Mutters schlanken sommergemäss wohlgebräunten. Er wollte nicht, dass Mutter sagte, Schostakowitsch sei heute kaum mehr im Angebot, und dass Dina dann fragte, wie man das zubereite. Er wollte nicht, dass Vaters Blick eine halbe Sekunde zu lange auf ihrem wunderbaren Busen blieb. Er wollte nicht Dinas Nacken küssen im Bewusstsein, dass Mutter wegsah. Er wollte nicht, dass Dina die Seesicht des Hauses lobte, und sich Mutter dann nach Dinas Sicht erkundigte. »Ich sehe das Asylantenheim und die Tankstelle und das Bordell in den beiden oberen Etagen und die Wohnblöcke, die abgerissen werden sollen«, würde Dina lachend sagen, und Mutter würde lächelnd erwidern »Wie aufregend«. Er wollte nicht der wohlgeratene dreißigjährige Knabe sein, der seine vollreife, frisch angebissene Frau präsentierte. Ja, er war feige.
Dina, komm.
Sie holten sich im Reisebüro Prospekte und begannen anzukreuzen. Dina wählte Kamelritt in Tunesien, Nilfahrt mit Pyramiden, Wellness in der Algarve, die Rosengärten von San Fidele. Er suchte sich Vilnius aus, die Hebriden und Literarisches Galizien. Dina wollte es garantiert warm haben. Also wurden seine Vorschläge gestrichen. Und Dina wollte es nicht zu teuer haben. Also blieben von ihrer Auswahl nur die Rosengärten. »Ich finde Rosengärten langweilig«, sagte er. »Ich eigentlich auch«, sagte sie, und er sagte »Warum besuchen wir nicht deinen Großvater?«
Und so beschlossen sie, nach Istanbul zu fliegen.
Der junge Mann, der nach ihnen das Reisebüro betrat, stellte sich dicht hinter Dina und musterte sie. Er war ein hübscher Kerl, wirkte aber irgendwie ungewaschen. Dina schien ihn nicht zu beachten. Trotzdem, ein Schatten streifte das Sommerglück, ihm war seltsam zumute, und wehrte sich gegen die Vorstellung, dass jeder, der Dina zu nahe kam, in ihm solche Unruhe auslöse.
Die Mensa für fünf Wochen zu schließen, gab Dina zwei Tage Arbeit. Während ein Putzmann die Geräte reinigte, kontrollierte sie die Vorräte und leerte die Kühlschränke, gab Bestellungen für die ersten Schultage auf, entsorgte angeschlagenes Geschirr und schrieb mit bunten Kreiden die neue Getränkeliste auf die Tafel. Er saß hinter der Kasse und las die Lebensgeschichte von Mehmet dem Zweiten, der mit 21 Jahren Konstantinopel erobert hatte. Er floh in die Küche, als der Rektor die leere Mensa betrat, und er hörte vom Kühlraum aus, wie Dina erneut um eine neue Kaffeemaschine kämpfte. Es war anzunehmen, dass der Rektor ihn gesehen und erkannt hatte. Am Abend, als der Putzmann gegangen war und die Rollläden geschlossen waren, traf er sich mit Dina in der Mitte des dunklen Speisesaals, wo sie sich küssten und in ihrer Umarmung eine Weile reglos stehen blieben.
In Istanbul wollte er nichts anderes als Arm in Arm mit Dina durch die Straßen gehen, ohne irgendwelchen Schülern oder Bekannten zu begegnen. Er wollte sie jederzeit küssen dürfen, das war sein Plan, mehr nicht. Und doch ertappte er sich beim Erstellen einer Besichtigungsliste und kam sich vor wie seine Mutter.
»Meine Zimmer sind Gräber«, sagte Dina, als sie vom Aufräumen ihrer Altstettener Wohnung kam. Das klingt wie der Anfang eines Gedichts, dachte er, von Hofmannsthal, von Lasker-Schüler. Meine Zimmer sind Gräber, aufrecht sitzet der Tod. Dina zählte auf, was sie weggeworfen hatte, einen gelb gewordenen Ficus, zwei verdorrte Grünlilien und verfaulte Usambaras. Die Namen sagten ihm nichts. Schwarze Bananen, braune Äpfel, Zwiebeln mit fingerlangen Sprossen. »Lach nicht«, sagte sie. »Es roch wie auf einem Friedhof. Sogar der Duschvorhang zersetzt sich.« Sie brachte zwei volle Koffer mit. Das sah aus, als bliebe sie für immer bei ihm, die osmanische Prinzessin, die Flüche kannte, von denen er noch nie gehört hatte.
Während er packte, lag sie auf dem Bett und sah ihm zu. Als er vor dem Spiegel seine alte Badehose anprobieren wollte, umfasste sie ihn von hinten und schaute über seine Schulter. Das Spiegelbild zeigte kurz ein nacktes vierarmiges Wesen. Dann rollten sie über die Bettdecke und liebten sich.
In dieser Nacht ging es mit den Bauchschmerzen so richtig los. Schon seit Tagen hatte er ein vages Ziehen verspürt und verdrängt. Jetzt saß er auf dem Bettrand und fühlte sich krank und krümmte sich. Dina erwachte nicht, auch nicht, als er sich in der Küche erbrach. Er blieb am Küchentisch sitzen, bis es hell wurde. Statt zum Flughafen fuhren sie ins Krankenhaus. Der Blinddarm musste raus, und mit Istanbul war vorerst nichts. Dort sei es im Augenblick zu heiß, um sich zu erholen, sagte der Arzt, und er riet zu zwei Wochen Schonung.
Dina nahm es gelassen. Wenn sie ihn besuchte, gab sie sich Mühe, ernst zu sein, weil Lachen ihm weh tat. Sie brachte ihm seltsame Dinge, eine Marzipankatze, Kölnisch Wasser, das er nicht mochte, ein Buch mit Engeln. Die Zimmertür öffnete sie energischer als die Krankenschwestern, er wusste sofort, sie war es. So als ob das Glück ihn schwerer machte, sank er dann etwas tiefer in die Kissen und wartete auf ihren weichen langen Kuss. Einmal, als der Arzt vorbeischaute, wusste er nicht gleich, wie er sie vorstellen sollte. »Dina Neumann«, sagte er, »meine Freundin.« Der Arzt schaute Dina verwundert an, aha, sagte sein Blick, seine Freundin, nicht seine Mutter.
Er war zum ersten Mal in einem Krankenhaus, vier Tage sollte er bleiben. Da er nicht litt, nichts musste, nichts brauchte, vervielfachte sich die Zeit. Die Stunden waren große weiße Fetzen, die sich überaus langsam an ihm vorbei bewegten. Er wusste: das war die Gelegenheit, mit sich ins Reine zu kommen, sein bisheriges Leben mit einer stillen Gründlichkeit zu lesen, die Gedanken nach Gewicht zu sortieren. Aber das Denken wollte ihm nicht gelingen. Er wartete bloß. Er wartete auf Dina. Stellte sich vor, wie sie kam, küsste, koste. Wie sie an seinem Bett saß und in den Illustrierten blätterte, und wie er währenddessen ihrer Brust zusah, die sich hob und senkte. Wenn sie ging, schloss er vergnügt die Augen, dachte: so muss sich ein Kind fühlen, das man gestillt hat. Und dann begann er wieder zu warten. »Sie unterrichten also an einem Gymnasium?«, sagte der Arzt. Ach so, ja, das tat er. Das hatte er ganz vergessen.
Dina hatte für seinen Balkon einen Sonnenschirm und eine Liege gekauft. Hier sollte er sich erholen. Schirm und Liege waren geblümt. Erst erschrak er ein bisschen, dann vergaß er das Geblümte. Er hatte seine angefangene Studie über die Lyrik der Siebziger Jahre wieder hervorgeholt und las seine Aufzeichnungen wie die eines Fremden. Liebesgedichte, die ihm damals gefallen hatten, kamen ihm jetzt wie gedrechselter Unsinn vor: Schöner / lerne mich tragen und ich/ Mache mich leicht. Auch soll dir dafür / Manches Wunder passieren: mein Haar / wird dir durch die Finger wachsen … Das war von Sarah Kirsch. Wie falsch es war. Liebe war nicht so. Liebe war nicht dazu da, einander tragen zu lernen. Liebe war Lust, ineinander und aneinander zu sein. Erst seit Dina wusste er das. Wenn sie vom Schwimmbad zurückkam, und er seine Fingerspitzen an ihre kühle Haut hielt und in ihrer Hand noch den grünen See roch, waren sie schon vereint. Sie brauchte nicht »Schöner« zu sagen, und er brauchte sie nicht ins Schlafzimmer zu tragen. Zum Glück, Frau Kirsch. Erstens war Dina schwerer als er. Und zweitens hatte der Arzt verboten, Schweres zu tragen. Die Operationswunde sollte rasch heilen. Er spürte sie kaum mehr. Was indes wohltuend schmerzte, war das, was in den Gedichten Liebe hieß.
Inzwischen misstraute er der Lyrik jener Jahre. Als er mit der Studie anfing, war er sicher gewesen, sich damit literarwissenschaftlich profilieren zu können. Von dieser Sicherheit war nichts mehr da. Wohl arbeitete er weiter, auf der geblümten Liege unter dem geblümten Sonnenschirm, aber es war, als stricke er an etwas, das ihm selber nicht gefiel.
Ab und zu ging er für ein paar Stunden in die Bibliothek. Dina brachte ihn hin und holte ihn wieder ab. »Ich bin doch kein Kind«, sagte er glücklich. Dann setzten sie sich in ein Straßencafé und bestellten, was sie noch nie bestellt hatten. Einmal steckte er den Trinkhalm in Dinas Busenspalte und tat, als schlürfe er. Dina lachte. »Dafür bekomme ich Trinkgeld«, sagte sie, und im gleichen Moment sah er aus dem Augenwinkel, wie eine elegante Dame in Hellgrau an den Tischen vorbeiging und vor einem Antiquitätengeschäft auf der gegenüberliegenden Seite stehen blieb – seine Mutter. Sie schaute gebannt ins Schaufenster, den schönen Kopf vorgeneigt, die braungebrannten Beine ordentlich nebeneinandergestellt. Bitte, geh endlich weiter, dachte er. »Wer ist das?«, fragte Dina. »Niemand«, sagte er und steckte den Kopf in die Getränkekarte. »Hast du schon mal Preiselbeerwein mit Minze bestellt?«
Später zog er Dina vor das Antiquitätengeschäft und fragte sie, was sie nähme, wenn sie müsste. Dina entschied sich für einen Kerzenleuchter aus blauem Glas.
Dass Dina für drei Tage ins Tessin fuhr, irritierte ihn sehr. Eine Freundin hatte sie eingeladen, und sie hatte ihn gefragt, soll ich fahren?, und er hatte gesagt, ja klar, fahr nur. Er verstand nicht, warum sie drei Tage ohne ihn leben wollte, warum sie ihn so mir nichts dir nichts losließ, sie waren doch mitten in einer Liebe. Aus einem Krieg lief man auch nicht einfach davon. Fahr nur, und sie fuhr. Die Freundin stammte aus der Zeit, als Dina frisch geschieden war. Sie hieß Daisy, und wenn sie mit Dina telefonierte, konnte er hören, wie viel und laut diese Daisy lachte. Er hörte es wieder, als Dina am Abend nach ihrer Abreise anrief und sagte, sie liebe ihn und sie küsse seine Blinddarmwunde. »Vermisst du mich?«, sagte sie. Am liebsten hätte er nein gesagt. Wie konnte sie so was fragen. Ebenso gut hätte sie ihn fragen können, ob es auf seiner Seite der Alpen auch Sterne am Himmel gebe. Das Wasser auch abwärts laufe. Das Blut auch rot sei. Er wünschte ihr einen vergnüglichen Abend und ließ die lachende Daisy grüßen. »Komm doch auch«, sagte Dina. Nein, das ging nicht, verletzt wie er war. Zweimal kurz hintereinander hatte man ihn aufgeschnitten, hatte ihm erst den Blinddarm entfernt und dann das Herz halbiert. Nachts lag er wach, und am Morgen schlug er auf Dinas unberührtes Kissen ein.
In der Bibliothek traf er Franco, den Geschichtslehrer. Sie setzten sich auf die Treppe, wie früher als Studenten, und Franco begann auf ihn einzureden, er war empört, dass die Lehrer während den Herbstferien einen pädagogischen Weiterbildungskurs besuchen sollten. »Lass uns streiken«, sagte er. Nur um renitente Schüler disziplinieren zu können, wolle er nicht fünf Tage Ferien opfern. Er lasse sich vom Rektor nicht so einfach unter Druck setzen, er wolle im Herbst mit seiner Frau nach China reisen. Sie lerne seit Monaten Chinesisch. Sie sei es, die ihn auf die Idee gebracht habe zu streiken. Sie sei die Mutige in der Familie. »Deine Frau wird auch nicht erfreut sein, oder?«
Deine Frau. War Dina seine Frau? Dina hatte ihn verlassen und war ins Tessin gefahren. Das war Verrat. Nach der Zeit absoluter Hingabe, von ihm, von ihr, war das Verrat. Er würde sie dafür bestrafen. Er würde in den Herbstferien diesen Kurs besuchen und sie völlig sich selber überlassen.
»Komm doch auch«, sagte sie, als sie am nächsten Tag erneut anrief. Nachts höre man die Palmen rauschen und die Berge seien violett. Zwei Stunden später saß er im Zug. Der Zug fuhr fast geräuschlos, das stetige DinaDinaDina hörte sonst keiner. Den Gedichtband, den er hastig eingepackt hatte, schlug er nicht mal auf. Er sah aus dem Fenster und blickte in Gärten und Hinterhöfe, auf Wäscheleinen, Grillöfen, Kinderschaukeln, Müllsäcke, und fragte sich, ob die, die da lebten, sich liebten. Ob seit langem, ob für immer. Bei Brunnen glänzte der See wie Glas. Bei Amsteg stürzten die Schatten ins Tal. Airolo war rosa im Abendlicht. DinaDinaDina. Keine jähen Hänge mehr, das Tal jetzt granitgrau, und wieder Wäscheleinen, Grillöfen, Kinderschaukeln, Müllsäcke. Es war ein ganz neues Gefühl, in einem Zug zu sitzen, der zu einem Menschen fuhr, den man liebte. Es war eine neue Himmelsrichtung. Nordsüdwestöstlich. Ostsüdnordwestlich. Steil aufwärts bis zum Grund.
Dina stand am Bahnsteig und lachte.
Sie aßen auf der Piazza und blieben lange sitzen. Dinas Füße kletterten unter dem Tisch an seinen Beinen hoch. Es war schon dunkel, als sie an Daisys Tür klingelten. Daisys Blicke tasteten ihn ab. Was bist du für einer. Was willst du mit Dina. Warum so ein Junger. Was hat sie davon. Bist du so ein Bock, oder was. Sie gab ihm die Hand und lächelte ohne Unterbruch. Vor ihrer Terrasse rauschten tatsächlich die Palmen, und etwas tiefer blinkten die Lichter von Lugano. Sie tranken lauwarmen Roten, und Dina und Daisy erzählten einander Geschichten von früher. Er mochte sie nicht so richtig, diese Daisy, und sie schien das zu spüren. Mehrmals sahen sie einander prüfend an. Dina merkte nichts davon. Sie sagte, sie möchte am kommenden Tag etwas Altmodisches machen, zum Beispiel auf einem Dampfschiff den ganzen Lago di Como rauf und runterfahren. Sie möchte sich damit von Neunzehnhundertneunundneunzig verabschieden. Die Jahrzahl zweitausend sei ihr nicht geheuer. Die bringe womöglich nichts Gutes. »Dina, alte Unke«, sagte Daisy.
Die Schifffahrt wurde beschlossen, und so nahmen sie in der Früh den Zug nach Como, ohne Daisy. Ihr werde auf Schiffen schlecht, hatte sie gesagt, ohne die Ausrede extra auszukleiden. Der Monte Generoso und die Bergrücken dahinter waren tatsächlich violett. Dina schob ihre Hand unter seine Hose auf die Blinddarmwunde und ließ sie dort, auch als der Schaffner kam.
Was hatten sie den ganzen Tag auf jenem Dampfschiff gesprochen? Hatten sie überhaupt gesprochen? Vielleicht saßen sie einfach wortlos da und blickten aufs gleitende Ufer. Sprechen, damit gesprochen wurde, das machten sie nicht. Sie sprachen, wenn es sich ergab, so wie sie tranken, wenn sie durstig waren. Das stille Nebeneinander genügte ihm durchaus. Und er nahm an, dass es auch Dina so ging. Weder sie noch er hatten das Bedürfnis, dauernd zu kommentieren, alles zu diskutieren. Sie waren sich einig wie zwei Beine: Sie standen, gingen, rannten, ohne sich abzusprechen. Es war schön dort auf jenem Dampfschiff, sonnig wohl auch, aber daran würde er sich nicht erinnern, nur an Dinas Sonnenhut, der beinah ins Wasser flog. Ein freundlicher Herr fing ihn auf und überreichte ihn Dina mit einer kleinen Verbeugung, sie bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln. Da war es wieder, dieses Unbehagen, diese idiotische Eifersucht.
Weil er sich im Funicolare vom Bahnhof hinunter in die Stadt unbeobachtet fühlte, küsste er Dina gleich beim Einstieg und verlängerte den Kuss bis zum Ausstieg. Dina machte willig mit. Mit jedem Meter, den sie sanken, verschoben sich ihre Zungen um winzige Distanzen. Er schloss die Augen und erforschte Dinas Mundhöhle, erst war sie morgenkaffeebitter, dann wurde sie immer süßer und saftiger, während der Funicolare sank, stieg die Lust. Die Fahrt und der Kuss dauerten zwei Minuten, beide wurden mit einem kaum merklichen Ruck beendet. Er verließ Dinas Mund und sah sich wieder in der Welt um und erblickte Anatol Bodenmann, Fayencen-Sammler und steter Gast seiner Mutter in Südfrankreich. Bodenmann strich sich verlegen über den kahlen Schädel, und weil sie einander beim Ausstieg nicht ausweichen konnten, begrüßten sie sich. Bodenmann schüttelte fragend Dinas Hand. Von Fayencen war kurz die Rede, von Wetterlaunen und der Nostalgie einer Standseilbahn. Derweil schwebte der vollendete Kuss leuchtend Richtung Innenstadt davon.
Er hatte Dina gefragt, ob sie sich die Kathedrale San Lorenzo anschauen wolle, nein danke, hatte sie gesagt. Schade, dachte er. Es wäre schön gewesen, mit Dina in die Stille einzutreten und ihr in der keuschen Luft unter die Bluse zu greifen, beobachtet von der Jungfrau Maria. Später beim Campari auf der Piazza, sagte sie, sie habe genug von Kirchen, für immer. Sie habe während der Kochlehre – als ihr Vater gestorben und ihre Mutter zurück in die Türkei gefahren war – in einem katholischen Heim gelebt. »Über meinem Bett hing vierfarbig der Heilige Vater.« Sie wolle von diesem Herrn so lange nichts mehr wissen, bis er in den Kirchen Kondome verteilen lasse, geweihte oder ungeweihte, egal. Sie sprach ganz ruhig und klang doch aufgebracht. So hatte er sie noch nie gehört.
Den letzten Tag in Lugano wollte er nutzen, um nach Montagnola zu fahren, zum Haus von Hermann Hesse. Er wusste genau, welche Gedichte in Montagnola entstanden waren, er hatte als Gymnasiast für Hesse geschwärmt, das aber niemandem gesagt. Ein Hesse-Liebhaber galt als reaktionär. »Gedichte?«, sagte Dina. »Sag mir eins.« »Seele, banger Vogel du.« »Und dann?« »Seele, banger Vogel du, / Immer wieder musst du fragen: / Wann nach so viel wilden Tagen / Kommt der Friede, kommt die Ruh?« »Und dann?« Er wusste nicht weiter, Dina schwieg. Erst am Abend, vorm Einschlafen, sagte sie »Ich weiß nicht, ob ich das Gedicht mag. Meine Seele ist kein Vogel.« »Was dann«, fragte er. »Meine Seele ist ein Topf, man kann sie auslöffeln.« Dann sagte sie noch »Ich bin wohl nicht für Gedichte gemacht« und stieß einen Seufzer aus, der hieß: lass uns schlafen.
Am nächsten Morgen fuhren sie nicht nach Montagnola, sondern an den Samstagmarkt in Ponte Tresa. Dina wollte sich eine Tasche kaufen und für Daisy eine Kugel, in der es schneite. Montagnola war vom Zug aus zu erahnen. Seele, banger Vogel, du. Es gefiel ihm immer noch. Dina streichelte seine Denkfalte.
Während Dina durch den Markt streifte, saß er in einem Café an der Tresa. Im Wasser schaukelten Schwäne, bestimmt dreißig Schwäne, schaukelten wie angebundene Zierschwäne, sahen aus, als gehörten sie nicht hierher. Ich gehöre auch nicht hierher, dachte er, aber das ist mir egal, weil Dina in der Nähe ist. Ich gehöre zu Dina. Über die Brücke kamen Scharen von Menschen aus der Schweiz. Kehrten sie aus Italien zurück, schleppten sie volle Tüten. Neben ihm saß eine Familie und stritt sich, sie warfen einander vor, schlecht eingekauft zu haben, »Das gleiche T-Shirt gabʼs zwei Stände weiter zur Hälfte«, sagte der Vater, und die Mutter sagte »Du hast schon immer geknausert«, »Ach wo«, sagte der Vater, und die Mutter sagte »Du hast den billigsten Wein bestellt, als du mich zum ersten Mal ausgeführt hast, und das ist zwanzig Jahre her«, und der Vater spuckte ohne aufzustehen übers Geländer in die Tresa. »Nicht nachmachen«, sagte die Mutter zu den Kindern. Wo würden er und Dina in zwanzig Jahren sein. Worüber würden sie streiten. Er spürte etwas Warmes am Hinterkopf, das war Dinas Mund, der ihn in die Haare küsste. Die Kinder der streitenden Eltern sahen ihn an.
Wie ihre Zukunft sein könnte, darüber hatten Dina und er noch nie gesprochen. Sie saßen nebeneinander wie Grünzeug in einem Garten und machten sich keine Gedanken übers Wachsen.
Obwohl noch Morgen, hatte Dina kleine Schweißperlen auf der Nase, die hätte er gerne weggeleckt, aber die Kinder der streitenden Eltern sahen ihn immer noch an, sie lutschten an einem grünen Eis und dachten sich was. Dinas Einkauf füllte zwei große Tüten, die würden sie über die Brücke tragen, zurück in die Schweiz, sie würden so sein wie alle Leute auf der Brücke.
Dina wühlte in den Tüten, sie hatte ihm etwas gekauft. Gerührt sah er ihren Händen zu, die das Einwickelpapier aufrissen, den großen, kräftigen Händen, deren Druck er so gern auf seinen Schulterblättern spürte. Es war ein dünnes Mäppchen mit Reißverschluss, aus einem Material wie Schlangenleder. »Danke«, sagte er, er hatte keine Ahnung, wozu das Mäppchen gut war. Dina strich die Schweißperlen von der Nase. »Und was tu ich da rein?« Dina hob die Schultern. »Vielleicht die Briefe, die ich dir nicht geschrieben habe. Oder die Gedichte, die du magst.« Er nahm ein Stück des zerrissenen Einwickelpapiers und schrieb: Du bist wie eine Blume, / So hold und schön und rein; / Ich schau dich an, und Wehmut / Schleicht mir ins Herz hinein. Als er aufblickte, sah Dina aus, als ob sie rot geworden wäre. »Meinst du mich damit?«, sagte sie. Nein, das waren bloß Zeilen, die er liebte. Aber er nickte.
Auf der Heimfahrt von Lugano hatten sie ein leeres Abteil, so eines, das mit einer Schiebetür zu schließen war, Dina sank mit einem zufriedenen Seufzer auf den Sitz. Sie legte die Füße in seinen Schoss und sah aus dem Fenster, während er in ihrem Gesicht zu erraten suchte, was sie sah. Manchmal schloss sie die Augen, obwohl sie, das wusste er, keineswegs müde war. Er nahm an, dass sie glücklich war.
An diesem Morgen, als Dina noch schlief, hatte er mit Daisy auf der Terrasse gestanden, und sie hatte von ihrer Zeit mit Dina erzählt, von der gemeinsamen Wohnung, von Dinas Drang, die ganze Zeit Lieder zu summen. »Sie summte sogar, wenn sie den Mund voller Zahnpastaschaum hatte«. Die summende Dina kannte er nicht, beim ihm sang sie. Es ärgerte ihn, dass Daisy von Dina Dinge wusste, die ihm neu waren.. »Hast du gewusst, dass sie mal abgetrieben hat?«, fragte sie. Das hatte er nicht gewusst, und sein Ärger wurde noch grösser. »Es wäre bestimmt ein wunderschönes Kind geworden«, sagte sie. Er mochte Daisy weniger denn je.
In Bellinzona stiegen die Rebers zu.
Schade, dachte er, als die Frau die Schiebetür aufzog und ihre Tasche ins Abteil hievte. Nun waren sie nicht mehr allein, mindestens bis Arth-Goldau. »Ist hier noch frei«, fragte die Frau ohne Freundlichkeit. Nein, hier ist nicht frei, dachte er, merken Sie das nicht? Hier ist alles reserviert für Dina, bis hinauf nach Hammerfest und für immer. Also nehmen Sie Ihre Tasche und gehen Sie wieder. Dass sie Rebers Frau war, merkte er erst, als Reber eintrat. Reber war Informatiklehrer an seiner Schule. »Da schau her, der Bodmer«, sagte er, »auch unterwegs«. Er nickte Dina zu und Dina zog ihre Füße unter den Sitz und nickte zurück. Nach dem Verstauen des Gepäcks stellte Reber seine Frau vor. Dina stellte sich selber vor. »Ich hab Sie schon irgendwo gesehen«, sagte Reber. »In der Mensa«, nehm ich an«, sagte Dina. Ob sie auch unterrichte, fragte Rebers Frau. »Nein«, sagte Dina. »Ich verpflege«. »Ach so«, sagte Rebers Frau verständnislos. Sie hieß Gerlinde und studierte Geologie, was den dritten zugestiegenen Fahrgast, einen Bergsteiger, zu interessieren schien. Er knüpfte mit Gerlinde ein Gespräch an.
Es war eine endlose Fahrt. Er vermisste Dinas Füße auf seinen Knien. Und er wusste nicht, was er mit Reber reden sollte. Dass er nach einer Blinddarmoperation im Tessin ein paar Tage Ferien gemacht habe, war bald gesagt. Rebers Neugier war offensichtlich. Sein Blick erwartete Auskunft darüber, was Dina und den Blinddarm verbinde. Dina lächelte ihn an und schloss dann die Augen. Sie hielt sie bis Göschenen geschlossen. Reber holte eine Zeitung aus dem Gepäck.
Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass er mit Dina nicht mehr dazugehörte. Sie waren als Paar auf eine schwimmende Insel verbannt. Schwebten neben der Bahn durch das Abendlicht. Schaukelten auf dem dunkelgrünen Urnersee. Dockten an lichterlosen Ufern an. Es machte ihn keineswegs traurig. Im Gegenteil. Er spürte so etwas wie Mitleid mit Reber, der seine Gerlinde in einem öffentlichen Bahnabteil »Schatz« nannte. Schatz, hast du das Vorlesungsverzeichnis in der Außentasche versorgt?
Zu Hause lag ein Paket aus Südfrankreich mit zwei leichten dunkelgrauen Kragen-Shirts. Man wirke darin sehr angezogen, schrieb seine Mutter. In ihrer schnellen Handschrift las sich angezogen wie ungezogen. Leider kenne sie seine Istanbuler Adresse nicht, schrieb sie. Die Shirts seien von Fabricci. Und in einem PS schrieb sie, Vater sei einer kleinen Kreislaufschwäche wegen zwei Tage in Nizza im Krankenhaus gewesen. Er saß mit dem Brief in der einen und den Shirts in der anderen Hand am Küchentisch und machte sich Vorwürfe. »Wer schickt dir so was Teures?«, fragte Dina. »Meine Mutter«, sagte er. »Warum?«, fragte sie.
Er beschloss, aus Istanbul anzurufen und nach dem allgemeinen Befinden zu fragen. Mutters Brief und die Shirts und Vaters Kreislaufschwäche würde er nicht erwähnen, da er in Istanbul davon gar keine Kenntnis haben konnte. Das hieß so viel wie Lügen. Früher war es ihm schwergefallen. Seit Dina log er mit Leichtigkeit. Wer ihn und Dina störte, war selber schuld.
Sie buchten den Flug, und erst am Abend merkte Dina, dass der Freitag, an dem sie fliegen würden, der dreizehnte war. »Macht dir das was aus?«, sagte er, und Dina schüttelte den Kopf: Sie stürze an sämtlichen Tagen gleich ungern ab. Sie lachte, und trotzdem hatte er das Gefühl, dass der Freitag, der dreizehnte, sie störte. War sie abergläubisch? Im Tessin hatte sie gesagt, die kommende Jahreszahl 2000 sei ihr nicht geheuer. Und auch schon hatte sie ganz seltsame Schritte gesetzt, um nicht auf einen Schattenfleck zu treten. Und sie hatte ihm ein grünes Ei aus Stein ins Schulzimmer gebracht, vielleicht sollte das etwas Magisches haben. »Dina«, sagte er, »würdest du mich an einem Freitag, dem dreizehnten, heiraten?« – »Ist das ein Heiratsantrag?« – »Wenn du willst, ist es einer.« Dina sah ihn ernst an. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, flüsterte sie.
Vor dem Einschlafen sagte sie »Versprich mir, dass du nie jemanden an einem Dienstag heiratest.« Am Dienstag dürfe man nichts Wichtiges anfangen, zumindest auf Türkisch. Es heiße Salı sallanır: Der Dienstag wackle. »Und noch etwas«, sagte sie. »Du solltest in der Türkei nachts nicht pfeifen. Denk dran. Das ruft die Teufel herbei.« Vielleicht funktioniere das hier auch, sagte er und spitzte die Lippen. Sie merkte es, obwohl es dunkel war, und küsste ihn, bevor er pfeifen konnte.
Es kam ihm vor, als sei er vor Dina lediglich die Vorstellung seiner selbst gewesen. Plötzlich war er, der er war.
Von Arnold war eine seltsame Einladung gekommen. L!, stand auf der Vorderseite, und auf der Rückseite lud er zu einer kleinen Feier, mit oder ohne Begleitung, und bat um Anmeldung bis zum 1. September. Arnold war Lateinlehrer, der älteste im Gremium, ein ernster Mensch. L!, das war wohl etwas Scherzhaftes und für Arnold ungewöhnlich. L wie Leben? Kaum.
Dina hatte die Karte zusammen mit weiterer Post vom Briefkasten hochgebracht. Möglich, dass sie sie gelesen hatte. Sie kannte Arnold auch, denn er aß regelmäßig in der Mensa zu Mittag, er hatte seinen festen Platz in der Ecke, den man ihm freihielt. Dina mochte Arnold, sie hatte gesagt, er sei der einzige Mensch, der imstande sei, mit ernstem Gesicht zu lachen.
Die Feier würde vermutlich eine artige Angelegenheit mit höflichen Kollegen und passenden Ehefrauen werden. Sollte er mit Dina da hingehen. Wollte sie das überhaupt. Und würde Dina dort den Arm um ihn legen oder ihm etwas von der Wange wischen, wie ging er dann mit diesen fragenden Blicken um. Wie bitte, der Deutschlehrer Bodmer und die von der Mensa. Wie passt denn das.
Nein, vorerst brauchte noch nicht die ganze Welt von seiner Liebe zu wissen. Er würde sich eine Absage einfallen lassen. Er nahm ein Buch vom Regal und steckte die Einladungskarte zwischen die Seiten.
Zu packen gab es wenig, sie würden nur eine Woche weg sein, dann fing die Schule schon wieder an. Während er immer wieder mal was in seine Reisetasche legte und dafür etwas anderes herausnahm, stopfte Dina ihren Koffer in Windeseile und öffnete ihn bis zur Abreise nicht mehr. Einmal mehr stellte er fest, wie wunderbar es war, jemanden zu lieben, der so durch und durch anders war als er, so viel unbekümmerter, so viel kurzentschlossener, so viel aufrichtiger. Und es war, als hätte Dina in all den Jahren, die sie älter war als er, genug Wärme für sie beide gespeichert. Er sah sie in der Küche sitzen und verspürte Freude, allein deshalb, weil er sie da sitzen sah. Hätte er formulieren müssen, was an ihr schön war, es wäre ihm schwergefallen. Der Haarbusch war wild, der Bauch rund, die Nase groß, alles war groß, Dina war nicht niedlich, aber Dina glänzte, Dina schimmerte, Dina war ein Vollmond in lauer Nacht, darüber hätte sie sich krumm gelacht, so ein Scheiß.
Als der Strauß für Dina abgegeben wurde, war sie nicht zuhause. Es hatte geklingelt, und als er die Wohnungstür öffnete, lag der Strauß auf der Fußmatte, und jemand rannte die Treppe runter, ein junger Mann. Er sah noch dessen Hand und Arm, als er durchs Geländer spähte. »Für Frau Neumann« stand auf einem abgerissenen Stück Papier, das neben dem Strauß lag. Die Blumen waren schlaff, eine Rose, ein paar Margeriten und ein bisschen Grün drum, er stellte sie gleich ins Wasser. Wer wusste, dass Frau Neumann hier wohnte? Ihr Name stand nicht auf dem Türschild. »Hast du Blumen gekauft?«, sagte Dina verwundert, roch an der Rose und blickte kopfschüttelnd auf das Stück Papier. Sie packte den Strauß, um ihn mit dem Wohnungsschlüssel den Leuten im unteren Stock zu bringen.
Seit vier Jahren wohnte er in diesem Haus, aber erst seit Dina hier war, wusste er, dass der Mann im Erdgeschoss verbotenerweise Schlangen hielt, die Frau in der ersten Etage aus einer Ehe in Ägypten durchgebrannt war und die Familie in der zweiten Etage einen erwachsenen Sohn hatte, der schwer behindert in einem Heim lebte. Die Leute hatten ihn gegrüßt, mehr nicht. Dina gaben sie ohne weiteres ihre Seele zu lesen.
Am Abend vor dem Abflugtag, eben jenem Freitag, dem dreizehnten, lag die Frau aus der zweiten Etage regungslos auf der Treppe. Dina hatte den Mann rufen gehört und war nach unten geeilt, um ihm zu helfen. Der Notarzt kam, die Frau war tot. Sie lag auf dem Ehebett, die Hände unter dem Kinn gefaltet, was aussah, als wolle sie etwas beteuern.
Erst um Mitternacht kam Dina nach oben, kroch unter die Decke und erzählte. Koffer und Reisetasche standen im Korridor bereit. »Ich weiß nicht, ob wir fliegen können«, sagte sie. »Der Mann hat niemanden. Hast du übrigens gewusst, dass er Hans Johann heißt, fast wie du?« Natürlich hatte er das nicht gewusst. Was ging der Mann ihn an. Die Reise nach Istanbul wollte er sich nicht nehmen lassen. »Schlaf jetzt«, sagte er streng. »Ja«, sagte Dina, und kurze Zeit später hörte er, dass sie in der Küche hantierte. Es schien, dass sie sich etwas kochte. Aus den Geräuschen konnte er entnehmen, dass sie Besteck aus der Schublade nahm, einen Deckel auf den Kochtopf setzte und ihren Stuhl näher an den Tisch rückte. Was sie kochte, konnte er nicht erraten. Der Kühlschrank war jetzt vor der Abreise beinahe leer. Er fragte sich, ob Hans Johann in der unteren Etage sich neben seine tote Frau aufs Ehebett gelegt hatte. Wahrscheinlich war deren Schlafzimmer genau unter seinem. Er kreuzte die Hände hoch über der Brust, so wie Dina das von der toten Frau beschrieben hatte. Zur Frau, als sie noch lebendig gewesen war, fiel ihm nicht viel ein. Graues Haar, rote Schuhe, die vor der Türe standen, und klein war sie gewesen, sehr klein, der Hans Johann hatte bestimmt in die Knie gehen müssen, wenn er sie küsste. Das war wohl lange her. Und jetzt hatte sich die kleine Frau davongemacht. In der Küche fiel etwas zu Boden, eine Holzkelle wahrscheinlich. Es roch nach Milch. Er stand auf um zu spähen. Dina saß am Tisch und aß etwas Weißes, sie aß mit großer Andacht, die nackten Füße auf dem Boden übereinandergelegt. Er schlich sich zurück ins Bett und schickte einen Dank hinaus in die Dunkelheit.
Dina schlief bis spät in den Morgen hinein. »Was war das, was du gestern gegessen hast?«, fragte er. »Milchreis«, murmelte sie, und dann fiel ihr die tote Nachbarin ein und Hans Johann, und sie sah ihn erschrocken an. Inzwischen war aber die Tote bereits abgeholt worden, und um Hans Johann kümmerte sich der Schlangenmann aus dem Erdgeschoss, er wollte für ihn kochen. »Woher weißt du das alles?«, fragte sie, und er gestand, dass er im Treppenhaus gelauscht habe, während sie schlief. »Ich geh heute kurz nach Istanbul«, sagte er, »kommst du mit?« Sie lachte und schien nicht zu merken, dass er sich schämte, weil ihm Hans Johann egal war.
Soweit rund ein Drittel von »Liebe, nur das« …