»Tage, Tage«

17. Dezember 2021

Wir essen zu zweit ein Meringue extragroß. Das ist ein Berg aus gezwirbeltem Schlagrahm und gezuckertem  Schaumgebäck (franz. »Baiser« = Kuss). Kurz: Schlaraffenland. Die Gaststube ist leer und still. Wir reden wenig, füllen den Mund,  bohren die Löffel in den Berg und graben einen Tunnel in die Süße. »Alles in Ordnung?«, ruft die Kellnerin von hinten. Sie ruft es laut, sie ist eine Resolute, man hat ein wenig Angst vor ihr. »Bin dann mal auf dem WC«, ruft sie noch lauter. Das möchte ich eigentlich gar nicht wissen. Erfolgreich verdränge ich das Bild der Resoluten, die energisch die Hose über den dicken Bauch nach unten zerren und sich auf die Toilettenschüssel knallen wird, und konzentriere mich auf das Meringue, so dass es wächst und wächst wie eine Wolke, bis die ganze Gaststube darin versinkt.

21. November 2021

Ich habe einen Namensvetter, der auch Bücher schrieb: Burkard Waldis, geboren 1490 im deutschen Allendorf, Sohn vermögender Salzhändler, wurde Franziskaner in Riga, reiste zum Papst, um Hilfe gegen die Reformation zu erbitten, wurde in Riga von den Protestanten eingekerkert, konvertierte, wurde Zinngießer, fing an zu dichten, heiratete die Witwe Schulthe, kam wegen Ketzerei erneut in den Kerker, wurde gefoltert, studierte Theologe, hörte Luthers Vorlesungen, wurde Feldprediger, wurde Pfarrer in Abterode, heiratete die Witwe Heistermann und starb 1556 an einem Schlaganfall. Seine Fabelsammlung »Esopus« liest heute niemand mehr. Sein Fasnachtsspiel »Die Parabel vom verlorenen Sohn« spielt heute niemand mehr. Aber sein Sinnspruch »Alles für die Katz« wird immer noch verwendet. So geht seine Geschichte: Wenn der Schmied für seine Arbeit nur mit einem »Danke« entlohnt wurde, schenkte er dieses »Danke« jeweils der Katz in der Werkstatt. Die konnte davon nicht leben, magerte ab und starb.

17. Oktober 2021

1 Stunde und 37 Minuten dauert die Fahrt im Schnellzug von Bellinzona nach Zürich. 1 Seite Vorlesen aus meinem neuen Buch dauert 2,3 Minuten. Ich könnte also von Bellinzona bis Zürich den Passagieren 42 Seiten vorlesen und käme bis zur Stelle, wo der sechzehnjährige Nick sich erinnert, wie er Nora küsste: »… das war eine neue Art von Kuss, er rauschte vom Mund in die Glieder.« Dann wäre die Durchsage »Nächster Halt Zürich Hauptbahnhof« zu hören, und ich wäre heiser. Man kann natürlich auch 1 Stunde und 37 Minuten schweigen. Das haben Vater und Sohn auf den Sitzen nebenan gemacht. Einsteigen, wortlos Jacke abstreifen, sich setzen, Handy und Kopfhörer hervorholen und abtauchen. Ach je, dachte ich, die Armen, sie haben Streit oder etwas Schlimmes erlebt oder fahren an ein Sterbebett. Ich lag falsch. Als sie in  Zürich schweigend ausstiegen, lachten sie sich sehr lieb an. Der Junge war etwa 12 und wird in etwa 4 Jahren ein Mädchen küssen.

10. Oktober 2021

Statt auf direktem Weg in den Süden zu fahren, haben wir einen Abstecher über Versam gemacht ­­­– was für ein wunderschönes altes Dorf, am Eingang zum Safiental, auf einer Terrasse hoch über der Rheinschlucht … So schön, um umgehend etwas über seine Geschichte ergoogeln zu wollen. Und da stößt man bald auf den Hinweis, dass aus dieser Gegend Anfang des 19. Jahrhunderts ein mancher als Söldner nach Neapel zog, in den Dienst der spanischen Dynastie Bourbon-Sizilien. Etwa Christian Ruosch, Tambour, starb mit 27 im Ospedale del Sacramento in Neapel. Oder Johann Gartmann, erschoss sich mit 39 in Palermo. Oder Johannes Buchli, mit 27 aus dem Dienst entlassen, wanderte später mit Frau und vier Töchtern nach Amerika aus und wurde Mormone. Oder Lazarus Buchli, beging mit 41 Fahnenflucht, war später Schulmeister in Versam und Vater von acht Kindern. Lebensläufe und Schicksale. Pläne und Hoffnungen. Trauer und Glück. Da, dort, wie eh und je.

10. September 2021

Sehr geehrte Klimawandelleugnende, hiermit schlage ich es Ihnen links und rechts um die Ohren: Die Waldmaus und die Amerikanische  Maskenspitzmaus haben in den vergangenen Jahrzehnten  längere Schwänze bekommen! Lachen Sie nicht! Und australische Papageien haben längere Schnäbel. Das hat ein Forschungsteam der australischen Deakin Universität herausgefunden und nennt als möglichen Grund die allgemeine Erwärmung.  Mit längeren Schwänzen oder Schnäbeln, also mehr Körperoberfläche, lässt sich in warmen Zonen die Temperatur des Organismus leichter regeln: Wenn das Blut die Wärme nach außen transportiert, kann es dafür eine  große Fläche nutzen. Klassisches Beispiel für diesen Vorgang waren bislang die großen Wüstenfuchs- und die kleinen Polarfuchs-Ohren. Nachdem ich Ihnen, sehr geehrte Klimawandelleugnende, diese Forschungsergebnisse um die Ohren geschlagen habe, sind die selbigen sicher gut durchblutet. Passen Sie bloß auf, dass sie nicht wachsen.

29.7.2021

Es ist heiß im Bus, eine Frau steigt ein, hält ein Baby im Arm, schiebt mit der freien Hand einen Rollstuhl. Der Junge im Rollstuhl hat Schläfenlocken, schaut munter, der Kopf des Babys hängt unnatürlich schief. Es sieht mich unfroh an. Die Frau trägt Perücke und blickdichte hautfarbene Strümpfe. Sie ist bleich. Sie tut mir leid. So viel zu tragen. Mein Mitleid, ich weiß, ist wohl eine Anmaßung, die Frau will es nicht. Gut möglich, dass sie Mitleid hat mit mir, der Alten, die ihre Haare und ihre nackten Fußknöchel zur Schau stellt, die kein Baby dabei hat, dem sie das weiche Gesicht streicheln kann, und keinen sichtbaren Glauben mit sich führt, der sich aufspannen lässt gegen die Sünde. Und doch, es ist heiß, und das Mitleid macht mich wütend, wohin soll ich damit. Beim Bahnhof sitzt ein junger Mann auf einer Bank, vornübergeneigt, Gesicht unter langem Haar verborgen, die Unterarme mit weißer Gaze verbunden, da, wo man die Adern aufschneidet, wenn man nicht mehr leben will.

24. Mai 2021

Einmal mehr lese ich »Arbeit und Struktur« von Wolfgang Herrndorf. Das ist ein ungeheuer reiches autobiografisches Buch über die Jahre 2010 bis 2013. Über das Leben, den Tod, das Schreiben. Für mich, als sich im Schreiben Versuchende, so mutmachend wie illusionsraubend, sozusagen ein außergewöhnliches Arbeitsmanual. Herrndorf erhielt im März 2010 die Diagnose Hirntumor und erschoss sich im August 2013. Sein großer Erfolg, der Jugendroman »Tschick«, erschien im September 2010. Ich erinnere mich an meinen Berlinaufenthalt mit O. im März 2011, realisiere, dass wir jeweils in der gleichen Kneipe saßen wie Herrndorf, im »Deichgraf«, in Berlin Wedding. Damals wusste ich noch nichts von Herrndorf. Ich erinnere mich, dass uns der Taxifahrer sagte, »in Japan ist passiert etwas.« Das Passierte war Fukushima, am 11. März 2011. Bei Herrndorf heißt es am 20. März 2011: »Interessante Zeiten, wo eine drohende Kernschmelze in gleich mehreren Atomreaktoren nur noch auf Platz 3 der Nachrichten steht.«

30. März 2021

Das schrieb der Drittklässler Josef Meier im Jahr 1959: »Am Donnerstag, den 22. Oktober, habe ich einen sehr traurigen Tag gehabt. Der Vater musste die schönste und beste Kuh schlachten lassen. Sie war plötzlich krank geworden. Wenn ich ihr etwas gesagt habe, hat sie mit dem Kopf genickt, dass sie es verstanden hat. Und sie hat viel Milch gegeben.« Der Drittklässler Josef Fellmann schrieb: »Die Schwester Berta ist gestorben. Drei Wochen alt ist es gewesen. Wir haben den Doktor gehabt. Es hat Schmerzen gehabt und Fieber und rote Hübel. Es hat den Rotlauf gehabt. Es ist am Sonntag gestorben.« Das schrieben die beiden Josef zum Aufsatzthema »Ein trauriges Erlebnis«. Ich war ihre Lehrerin, neunzehn Jahre alt, und absolvierte ein Praktikum in einem kleinen Dorf. Ich habe ihre Aufsätze aufbewahrt und finde sie, Jahrzehnte später, immer noch beeindruckend. So eindringlich müsste Literatur sein.

15. Januar 2021

Beim Räumen alter Papiere habe ich allerlei gefunden, was die kleine Angelika mal geschrieben und meine Mutter aufbewahrt hat. Da steht auf einem präzise illustrierten Einkaufszettel: »Einkaufen! 1 Schöner Salat. 1 Pfund Schöne Tohmaten. 1 Kilo Italiener Reis. 2 Kämme. 2 Tauben Zampasta.« Ich habe dann gelernt, dass Tauben in Deutschland Vögel sind. Und dass Finken dort Pantoffeln heißen. Inzwischen weiß ich auch, dass ein Passevite eine Flotte Lotte und ein Pedalo ein Tretboot ist. Aber so richtig werde ich es wohl nie lernen, das perfekte Hochdeutsch. Macht nichts – ich mag es meiner Lektorin gönnen, wenn sie sich krummlachen kann. Schade nur, dass ich so manchen treffenden Ausdruck nicht verwenden darf, etwa: es harzt, es lupft mich, die Agglo oder die Fingerbeere.