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Kritik

Christoph Schneider, Tages-Anzeiger, August 2006

Es gibt ja Menschen, die einem immer sagen, was gestern war, interessiere sie nicht, vorbei sei nämlich vorbei, und sie lebten heute und für morgen. Für die ist dieses Buch der Zürcherin Angelika Waldis – »Verschwinden« – vermutlich nichts. Denn in den zwei Geschichten, die sich darin aus dem Nebeneinander und Gegeneinander von Wahrnehmungen und Erinnerungen melodiös entwickeln, ist, was war, mächtiger als was ist, und das Gestern mischt sich derart in die Vorstellung vom Morgen, dass das Heute schnell einmal verpasst wird.

Von einer Gruppenreise wird da beispielsweise berichtet, irgendwo durch altes Keltenland, vier Reisende erleben sie je anders, und ein fünfter, ein Widerling namens Zett, den wir nur aus fremder Beobachtung kennen, verschwindet plötzlich, und sehr wahrscheinlich ist er tot. Als Toter ist er dann besonders lebendig: ein Katalysator von Verstörungen. Paarungen und Entzweiungen. Angelika Waldis beherrscht das Spiel mit den Blickwinkeln (neu ist das nicht, jedoch immer noch ein wirkungsvoller Trick, wenn mans kann, und diese Autorin versteht etwas von dramaturgischer Weberei), im Spiel mit den Stimmen fehlen einige Dissonanzen zur vollen polyphonen Meisterschaft, aber es reichte zu einem wunderbaren kleinen Buch voller feiner Erbarmungslosigkeiten: Es handelt von den brüchigen Sicherheitsgeländern des Lebens, an denen wir uns halten.